6.3 Rohfassung schreiben

6.3.1 Den Einstieg finden

Das eigentliche Niederschreiben einer wissenschaftlichen Arbeit bereitet vielen Leuten Probleme, die bis zur totalen Schreibhemmung“ führen können. Man glaubt, alles schon im Kopf zu haben, aber sobald man es zu Papier bringen will, ist jeder klare Gedanke fort, man weiß nicht, wo man anfangen soll, die Sätze drücken nicht das aus, was man sagen möchte, oder sie wirken banal, sobald man sie Schwarz auf Weiß sieht, und so weiter.

Hilfen dafür, wie diese Schwierigkeiten überwunden werden können, finden sich in diesem Buch schon in den vorangegangenen Kapiteln: Wenn man bereits beim Konzipieren und Lesen immer wieder mit eigenen Notizen und Entwürfen das Schreiben zum Thema übt, wird die Schwelle zur Niederschrift niedriger. Darüber hinaus gibt es Trainings und Anleitungen, mit denen man das schriftliche Formulieren üben und Schreibhemmungen überwinden kann.

Schreiben ist nicht nur das Festhalten und Aufzeichnen von fertigen Gedankengängen, sondern selbst eine Entwicklungsarbeit. Viele Gedanken und Argumente entwickeln sich erst beim Schreiben, aber ebenso zeigen sich dabei Brüche oder Widersprüche, die vorher noch nicht aufgefallen sind. Schreiben hat also gleichzeitig zwei Ziele: sich selbst Klarheit zu verschaffen und dem (zukünftigen) Leser etwas mitzuteilen.

Vor allem beim Schreiben einer ersten Rohfassung können diese Ziele leicht miteinander in Konflikt geraten und das Schreiben behindern. Es ist schon schwer genug, einen Gedankengang schlüssig von Anfang bis Ende zu entwickeln und schriftlich niederzulegen. Manche Schreiber, die sich dazu auch noch vornehmen, gleichzeitig stilistisch gut, verständlich und überzeugend – also für den Leser – zu schreiben, überfordern sich damit selber. Die beiden Ziele – Denken und Kommunizieren – lassen sich zwar nicht ganz trennen. Aber wenn man merkt, dass man ein Argument zwar bereits im Kopf hat, aber noch nicht schön und treffend formulieren kann, ist es besser, es fürs erste eben bloß so zu formulieren, wie es gerade geht, als es wegen der Sorge um die sprachliche Gestaltung womöglich wieder entgleiten zu lassen.

Gerade bei Qualifikationsarbeiten sehen Studierende im Geiste die Prüferin als die (einzige) Leserin vor sich und versuchen, ihren Ansprüchen gerecht zu werden: Das Schreiben wird zur ständigen Prüfungssituation, in der sie die Kritik und die Benotung schon vorwegnehmen und oft strenger sind als die Prüferin. Unter dieser scharfen Kontrolle fällt das Formulieren natürlich doppelt schwer. Stellen Sie sich besser als Leserin eine andere Person vor, z. B. Ihre StudienkollegInnen, die zwar insgesamt eine ähnliche fachliche Kompetenz haben wie Sie, sich aber in Ihrem speziellen Thema weit weniger auskennen. Das kann Ihnen einen Anhaltspunkt dafür liefern, wie kompliziert oder einfach Sie schreiben müssen, was Sie voraussetzen können und was Sie erklären müssen.

Oft ist es gerade der Anfang – der erste Satz, die erste Seite – der am meisten Schwierigkeiten bereitet. Bei vielen verursacht die leere Seite (oder der leere Bildschirm) Hemmungen und Blockaden. Man will den Anfang „richtig“ erwischen: Er soll sozusagen als Visitenkarte der ganzen Arbeit den Leser interessieren und beeindrucken. Diese Ansprüche sind aber für das Schreiben der Rohfassung viel zu hoch. Wenn sich die Einleitung nicht schon von selbst anbietet, kann man sich mit Tricks über die erste Schwelle hinwegschwindeln, um ins Schreiben hineinzukommen. Ein solcher Trick ist z. B. das „freie Schreiben“: Man schreibt wieder ganz unwissenschaftlich und nur für sich selbst auf, was einem zum Anfang einfällt und was man später darin haben möchte, und setzt dann dort fort, wo man eben mit dem richtigen Formulieren und Argumentieren beginnen kann.

Sich gleich um eine richtige Einleitung zu bemühen, kann unnötiger Aufwand sein: Eine Einleitung soll ja einen Ausblick auf und Überblick über die Arbeit geben. Die Arbeit kann sich aber beim und durch das Schreiben doch noch anders entwickeln, als man anfangs denkt, und dann passt die Einleitung sowieso nicht mehr. Es ist also besser, diesen Teil erst zum Schluss zu schreiben. Für den Anfang genügt gerade so viel, wie man braucht, um den Einstieg zu finden und „in Fahrt“ zu kommen.

Dagegen wird der Hauptteil so vollständig und durchgängig wie möglich geschrieben. Das betrifft wiederum in dieser Phase in erster Linie die Inhalte: die verarbeitete Literatur, die Analysen, Argumente, Belege, Beispiele usw. Das Schreiben der Rohfassung ist der Zeitpunkt, zu dem man diese Stücke zusammenhängt und in eine einheitliche Struktur bringt. Sackgassen, Brüche und Widersprüche sind Anzeichen für lückenhafte oder unlogische Argumentationsgänge – wenn man sich in der Rohfassung über sie hinwegschwindelt und „Löcher“ im Text stehen lässt, verschiebt man die Arbeit daran bloß auf später oder verrennt sich – schwerwiegender – in eine falsche Richtung, die nicht mehr zu ändern ist.

Dabei ist dieselbe Vorgangsweise wie bei der Einleitung günstig: Das heißt, man schreibt die Rohfassung möglichst in einem Fluss, ganz gleich in welcher Sprache und welchem Stil. Wo Formulierungsprobleme drohen, den Schreibprozess ins Stocken zu bringen, behilft man sich eben mit vorläufigen „lockeren“ und frei geschriebenen Passagen und Übergängen.

Für die Abfolge der Teile und Argumente gibt es klassische Muster, die man je nach Themenstellung, Zielsetzung und Material wählen wird. Ihr Zweck ist es, der Leserin (und den eigenen Gedanken) einen Leitfaden zu liefern und die Arbeit als eine Einheit erkennen zu lassen.

Tab. 6.4: Aufbau von Argumenten
Sie verwenden das Muster… … und gehen dabeo so vor Hinweis
Vom Ganzen zum Teil Problemstellung allgemein, dann einzelne Fragen, Aspekte, Merkmale; oder: zuerst Behauptung, dann Beleg oder Beispiel fördert Überblick; die Einzelteile müssen relevant sein, sonst erscheinen sie der Leserin überflüssig („alles schon gesagt“)
Vom Teil zum Ganzen umgekehrt: einzelne Aspekte, daraus verallgemeinern; ein Beispiel oder Fall, daraus allgemeine(re) Aussage entwikkeln wirkt schlüssig und logisch; der Überblick beim Schreiben und Lesen ist schwieriger zu wahren
Spannung vom weniger Wichtigen, Spektakulären etc. zum Neuen, Zentralen; Widersprüche, Gegensätze stehenlassen und erst zum Schluss auflösen weckt Neugier beim Leser, wenn zielgerichtet auf den Höhepunkt hin geschrieben wird.
Zunehmende Komplexität vom Einfachsten, Einleuchtendsten zum Schwierigeren, Fraglicheren notwendige Vorgangsweise, wenn beim Leser schrittweise Vorverständnis und Vorkenntnisse aufgebaut werden müssen

Nicht nur der Text als Ganzes, sondern auch jeder seiner Teile sollten idealerweise eine klare, folgerichtige Struktur aufweisen. Das heißt, dass man bei jedem Kapitel, Abschnitt, ja sogar Absatz wieder so vorgeht wie bei der Gliederung der gesamten Arbeit: Man sagt oder besser notiert sich dafür jeweils in einem Satz, worum es geht: Wo steht man im Gedankengang am Anfang, wo will man am Ende sein? Welcher Schritt wird im gerade bearbeiteten Teil gemacht? Wie hängt er mit der gesamten Arbeit zusammen?