6.4 Argumentieren

Bei „Argumentieren“ denkt man zuerst an das mündliche Streitgespräch und die Diskussion. Die Spielregeln des Argumentierens gelten aber auch für schriftliche Arbeiten, denn diese sind ja (zumindest gedanklich) „zeitverzögerte“ Debatten. Ihre „Diskussionspartner“ sind einerseits die AutorInnen, mit deren Werken Sie sich auseinandersetzen, andererseits die zukünftigen LeserInnen, die Sie überzeugen und mit denen Sie ins Gespräch kommen möchten.

Die Regeln des Argumentierens sorgen erst dafür, dass Aussagen überhaupt vernünftig diskutiert werden können. Wir können hier nur kurz die wichtigsten Grundsätze kurz erläutern; mehr dazu in (Kienpointner 1996):

Tab. 6.5: Richtig argumentieren
Sie sollten … Das bedeutet … schlechtes Beispiel
sachlich argumentieren Kritik, Begründungen usw. müssen sich direkt auf den Inhalt einer Aussage beziehen Das inhaltlich richtige Argument eines Autors wird deswegen abgelehnt, weil er als frauenfeindlich gilt
jede Behauptung begründen Durch Belege, Beweise etc. zeigen, wie Sie zu Ihrer Behauptung gekommen sind Sie kommentieren ein Zitat etwa mit „Das ist ganz offensichtlich falsch.“ ohne zu sagen, warum es (Ihrer Meinung nach) falsch ist.
andere Meinungen gelten lassen andere AutorInnen richtig und im Kontext darstellen und sie erst dann kritisieren Durch unzusammenhängende und verzerrende Darstellung wird einem Autor etwas unterstellt, was er nie behauptet hat.
ausreichend explizit sein Einzelschritte der Argumentation so darstellen, dass die LeserInnen sie nachvollziehen können „Der Schnee ist weiß. Daher gehe ich morgen Schifahren“ mag für Sie selbst ganz logisch sein, weil Sie die einzelnen Schritte kennen, die vom einen zum anderen führen. Diese Schritte kennt aber sonst niemand.
nicht unnötig explizit sein Gemeinsame implizite Voraussetzungen müssen und können nicht alle explizit gemacht werden Jeden kleinsten Gedankenschritt darzustellen, kann unnötig und ermüdend sein. Ebenso können Sie in einer Definition nicht jeden verwendeten Begriff definieren.
plausible Argumentationsmuster verwenden Muster wie Definition, Zuordnung, Vergleich, Ursache-Wirkung usw. korrekt verwenden zirkuläre Definition wie z. B. „Eine Irrlehre ist ein Glaube, der die Menschen in die Irre führt“
logisch argumentieren aus Prämissen korrekte Schlüsse ziehen unzulässige Schlussfolgerung wie z. B. „Regenwürmer sind Tiere. Regenwürmer haben keine Beine. Also haben Tiere keine Beine.“

Diese Regeln klingen – so allgemein ausgedrückt – beinahe trivial. Beim wissenschaftlichen Schreiben erfährt man, dass es gar nicht so einfach ist, sie zu erfüllen. Nach unserer Erfahrung scheint es Studierenden besonders schwerzufallen, den angemessenen Mittelweg zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Explizitheit zu finden. Die Auswüchse sowohl in die eine wie in die andere Richtung zeigen aber nicht bloß die persönlichen Neigungen verschiedener AutorInnen – sie können auch in ein und derselben Arbeit auftreten.

Gegen die Faustregel „nicht unnötig explizit sein“ wird vorzugsweise ganz am Beginn der Arbeit verstoßen, u.zw. dort, wo die in der Arbeit verwendeten Begriffe definiert werden. Jede Definition verwendet wiederum Begriffe, die man glaubt, nun ebenfalls definieren zu müssen. Die Forderung, dass jeder Begriff definiert sein soll, ist nicht erfüllbar, denn dann kommt man nie ans Ende des Definierens und zum Beginn der eigentlichen Arbeit. Wo sollte man also die Grenze ziehen?

Die Begriffe, die für Ihr Thema von zentraler Bedeutung sind, sollten allerdings definiert werden, um von vornherein bei den LeserInnen eine einheitliche Ausgangsbasis für Ihre Argumentation zu schaffen.

Wenn Sie zu diesen Begriffen mehrere, voneinander abweichende oder sogar einander widersprechende Definitionen finden, so können Sie z. B. die wichtigsten Vertreter darstellen und diskutieren, um anschließend (immer mit Begründung)

  • eine der präsentierten Definitionen zu übernehmen
  • zwei oder mehrere der Definitionen zu „Ihrer“ (weiteren, genaueren …) Definition zu kombinieren
  • die vorhandenen Definitionen zurückzuweisen und Ihre eigene zu finden.

Häufig wird man mit den vorgefundenen Definitionen nicht zufrieden sein und versuchen, es selbst besser und für die Arbeit passender zu machen. Das ist jedoch gar nicht einfach, da ja eine „richtige“ Definition genau alles treffen sollte, was zur Kategorie gehört, und genau all das ausschließen, was nicht dazu gehört. Statt nun ewig an einer Definition zu feilen, die schon mit Merkmalen vollgestopft und doch nicht ausreichend präzis ist, ist es durchaus legitim, sich auf eine „Arbeitsdefinition“ zu beschränken, für die man nur begrenzte Gültigkeit beansprucht, also z. B. „In dieser Arbeit werde ich daher X vereinfacht definieren als ….“.

Natürlich darf diese Definition nicht völlig dem widersprechen, was der Begriff im Wissenschafts- oder Alltagsverständnis bedeutet. Außerdem muss die Definition „operational“ sein, d. h. sie muss nachvollziehbar und damit überprüfbar sein. „Als X bezeichne ich alle jene Fälle, die ich in dieser Arbeit behandle, aber keine anderen“ ist zum Beispiel nicht nachvollziehbar, denn Sie erklären nicht, wodurch sich Ihre Fälle von allen anderen unterscheiden.

Der Fehler, zu wenig explizit zu sein, unterläuft einem dagegen eher später im Lauf der Arbeit und des Schreibens: vielleicht hat man einen Gedankengang während der Vorarbeiten schon so oft verfolgt, dass er einem bereits selbstverständlich erscheint, und schreibt nur noch das Ergebnis hin. Für den außenstehenden Leser ist das zu wenig, es erscheint unbegründet und sprunghaft. Dagegen hilft, wenn man den eigenen Text mit den Augen des Lesers zu sehen versucht, und wenn man ihn tatsächlich von anderen durchlesen lässt.

6.4.1 Die Rohfassung vervollständigen

Die Literatur, die im Text verarbeitet wird, ist in der Rohfassung bereits mit Zitaten und Quellenangaben eingebaut. Wie man beim Schreiben mit der Literatur umgeht, wird im folgenden Kapitel (siehe Kapitel 7: Zitieren) beschrieben.

Um den Faden beim Schreiben der Rohfassung nicht zu verlieren, haben Sie im ersten Anlauf vielleicht Kapitelanfänge ausgelassen und Teile ohne Übergang aneinandergereiht. Diese Lücken sollten bereits in der Rohfassung zumindest versuchsweise geschlossen werden. Unter „Übergang“ ist hier ein Absatz (oder mehrere) gemeint, die einen Teil abschließen und gleichzeitig den nächsten ankündigen. Für den Schreiber muss daraus ebenso wie für den Leser klar werden, was bis dorthin erreicht wurde und warum das Folgende die notwendige und logische Fortsetzung davon ist. Wenn man Schwierigkeiten mit diesen Übergängen hat, die nicht bloß mit dem Ausformulieren zu tun haben, dann kann das ein ernstzunehmendes Warnsignal dafür sein, dass das eigentliche Problem im Aufbau der Arbeit liegt: Wenn dem Aufbau ein logischer Gedankengang zugrunde liegt, dann lässt sich dieser auch sprachlich formulieren – vielleicht holprig, aber doch. Wenn die Formulierung so gar nicht kommen will, könnte das Problem auch daran liegen, dass der Aufbau eben nicht folgerichtig ist.

Meistens wird der Schluss einer Arbeit, der eine Zusammenfassung, Ergebnisse oder einen Ausblick bringt – ähnlich wie die Einleitung in der Rohfassung – nur provisorisch geschrieben werden können: Bei längeren Texten hat man nach der intensiven Arbeit an der Formulierung der einzelnen Argumente oft am Ende nicht mehr jenen Blick für das Ganze, der für einen guten Abschluss notwendig wäre. Dann ist es besser, die endgültige Formulierung des Schlusses erst nach dem Durchlesen und Überarbeiten vorzunehmen.

Tab. 6.6: Rohfassung schreiben
  • Wird der Grundsatz “Inhalt geht vor Form” beachtet? (Stil, Sprache, Laoyout in dieser Phase nicht sehr beachten)
  • Wird – bei Schreibschwierigkeiten – der Einstieg provisorisch und alltagssprachlich überbrückt?
  • Sind alle Inhalte formuliert und Lücken im Argumentationsgang geschlossen?
  • Ist der Hauptteil vollständig schriftlich formuliert? (bei Schreibschwierigkeiten vorläufige, lockere Formulierungen verwenden)
  • Wurden die Quellen bereits mit Belegen zitiert?
  • Sind die Übergänge zumindest provisorisch formuliert?
  • Gibt es bereits einen – wenn auch evt. provisorischen – Schluss?

Literatur

Kienpointner, Manfred. 1996. Vernünftig Argumentieren: Regeln Und Techniken Der Diskussion. Rowohlt.