2.9 Einheit (engl. unity)

2.9.1 Vorbemerkung

Als Robert Cialdini 1984 sein populärwissenschaftliches Buch Influence veröffentlicht, ist nicht abzusehen, welchen Erfolg es einmal haben wird; auch knapp 40 Jahre später in der inzwischen sechsten Auflage. Cialdini beschreibt – das gilt für die ersten fünf Auflagen – sechs grundlegende Prinzipien, die sich Profis zu Nutze machen, um andere Menschen zu beeinflussen (vgl. die vorhergehenden sechs Abschnitte): Sympathie, Autorität, Reziprozität, Knappheit, Commitment bzw. Konsistenz und soziale Bewährtheit. Diese allgemeingültigen Ansätze hat Cialdini in Feldforschung in den unterschiedlichsten Bereichen ermittelt: Autoverkäufer, Versicherungsvertreter, Recruiter – also Personalbeschaffer oder auch Fundraiser. Das ist wichtig und sollte betont werden: Ganz unabhängig von dem Bereich, in dem Menschen dazu bewegt werden, “ja” zu sagen, bedienen sich die Menschen – die Einfluss-Profis – der gleichen, überschaubar wenigen Mechanismen.

Die aktuelle Auflage (Cialdini, 2021) erhält nun ein weiteres Kapitel mit einem neuen Mechanismus, einem neuen Prinzip: Unity – übersetzt mit Einheit.

Hier soll nun dem neuen Prinzip Rechnung getragen werden: Wir werden uns das Konzept Unity erarbeiten und verstehen, dass damit ein weiterer wichtiger Ansatz zur Beeinflussung von Vorhalten konzipiert wird.

2.9.2 Einführung

Einheit – hatten wird das nicht schon?! Ist das nicht einfach nur eine besondere Form der Ähnlichkeit, die wir als unterstützendes Merkmal von Sympathie kennen gelernt haben? Wenn uns Menschen ähnlich sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie uns sympathisch sind – und daher sagen wir “ja” eher zu Menschen, die uns ähnlich sind.

Im Prinzip ist das schon alles richtig. Einheit geht aber einen merklichen Schritt über das zu Sympathie und Ähnlichkeit Gesagte hinaus. Deutlich macht das die Beschreibung eines Menschen als “Diese Person ist wie wir” – das bezieht sich auf Ähnlichkeit. Im Vergleich zu “Diese Person ist eine von uns” – zu einer solchen Charakterisierung ist einfache Ähnlichkeiten nicht ausreichend. Hier haben wir einen qualitativen Unterschied.

Das Konzept der Einheit betrifft geteilte Identitäten (shared identities). Da stolpert die deutsche Übersetzung des englischen “shared” etwas. Dieses geteilt zielt auf das Gemeinsame und nicht das Trennende: Wenn wir das Konzept WIR in diesem Sinn verwenden, um eine Wir-Gruppe zu bezeichnen, dann verschwimmt die Trennung zwischen ICH und WIR.

Beispiele für solche Wir-Gruppen sind Strukturen, die Sippen oder Stämmen ähneln (auf Englisch: tribe-like structures). Erzeugt werden sie häufig über Ethnie, Nationalität, Familie, über religiöse oder politische Orientierung.

Eine Anmerkung zum Begriff “Race”. Ich habe ihn hier unübersetzt gelassen. Das englische “Race” ist ein soziokulturell ausgerichteter Begriff, der sich auf gesellschaftliche Gruppen bezieht und in diesem Kontext auch einigermaßen unproblematisch verwendet wird – ganz anders als die Übersetzung Rasse4. Nach Census-Informationen aus dem Jahr 2000 haben in den USA die folgenden Races die meisten Mitglieder: White, Black oder African American, American Indian oder Alasca Native, Asian Indian, Native Hawaiian oder Pacific Islander. Der Begriff “Race” soll im Folgenden daher vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund verstanden werden.

Viele Wir-Gruppen bilden aber auch noch deutlich kleinere Einheiten; Familien, Vereine, Abteilungen. Die Grundlagen und Folgen dieser Strukturen sind allerdings vergleichbar. Eine besondere Grundlage von Wir-Gruppen finden wir schon in unserer neuronalen Ausstattung: Auch hier ist zu erkennen, dass die Unterscheidung zwischen ICH und WIR ungenau und schwer auszumachen ist. Die beiden Konzepte vermischen sich, indem sie sich gegenseitig anregen. Man nennt dieses gegenseitige Aktivierung von neuronalen Strukturen Kreuzerregung oder cross-excitation. Die Identitäten teilen sich also Gemeinsamkeiten. Cialdini fasst das kurz so zusammen: Das WIR ist das geteilte ICH (auf Englisch klingt das besser – und auch noch eine Spur korrekter: WE is the shared ME).

Es gibt verschiedene psychologische Möglichkeiten, diesen Grad an Vermischung zu messen. Ein einfacher Ein-Item-Fragebogen ist die sog. Inclusion of Other in Self Scale. Hier wird die Beziehung zu Anderen über die Fläche einer Schnittmenge von überlappenden Kreisen visualisiert.

Die Forschung zum Thema formuliert zwei grundlegende Eigenschaften von Wir-Gruppen: Mitglieder einer Wir-Gruppe ziehen das Wohlergehen von Mitgliedern dem von Nicht-Mitgliedern vor UND sie orientieren sich an den Präferenzen und Handlungen von Mitgliedern. Selbst wenn wir erfahren, dass dieses Verhalten auch oft zum eigenen Nachteil gezeigt wird, überrascht uns das erstmal nicht über die Maßen. Aber natürlich kommt da noch mehr…

2.9.3 Gesellschaft, Organisation, Person

Besonders deutlich wird die Relevanz von Einheit für die Einflussnahme auf Andere, wenn wir uns die Rollen betrachten, in denen Menschen im gesellschaftlichen, geschäftlichen und auch persönlichen Miteinander auftreten. Auf all diesen Ebenen haben Wir-Gruppen eine große Bedeutung.

2.9.4 Business, Politik, Gesellschaft

Nehmen wir das Geschäftliche: Cialdini beschreibt im Abschnitt Sympathie den erstaunlichen Erfolg des Autohändlers Joe Girard, der 2019 im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Den Titel als World’s Greatest Car Salesman hat ihm das Guinness Buch der Rekorde für die meisten pro Kalenderjahr verkauften Fahrzeuge verliehen; im Jahr 1973 waren das 1.425 Stück. Cialdini erklärt uns, dass Girard seinen Erfolg vor allem der Tatsache zu verdanken hat, dass ihn seine Kund:innen sehr gemocht haben. Und Girard hat viel dafür getan, dass das so bleibt. Seine Klaviatur finden Sie im Abschnitt Liking des Buches.

Auch Ali Reda aus Dearborn hat sich dieser Klaviatur bedient. Auch er ist Autohändler – und zumindest ähnlich erfolgreich, wenn nicht sogar noch erfolgreicher als Girard (auch hier die Details: 2017 hat Reda 1.582 Fahrzeuge verkauft). Reda nutzt aber noch einen weiteren Mechanismus zu seinem Vorteil: Der arabischstämmige Reda setzt bei seinen Verkaufsbemühungen auf die große arabischstämmige Community, die es in Dearborn gibt. Er setzt mit großem Erfolg auf eine ethnische Wir-Gruppe.

Interessante Randnotiz: Joe Girard war ein Sohn italienischer Einwanderer. In einer Zeit, in der dieser gesellschaftlichen Gruppe Vorurteile und Abneigung entgegengebracht wurde, hat er seinen Nachnamen von Gerardi in Girard geändert. Er hat hier also bewusst NICHT auf die ethnische Wir-Gruppe gesetzt.

Interessanterweise haben in der Geschichte des Anlagebetrugs die beiden – zumindest in den USA – bekanntesten Namen ebenfalls ihre ethnische Wir-Gruppe ausgenutzt. Vor gut 100 Jahren ist das Charles Ponzi, der dem Ponzi-Scheme seinen Namen gibt. Im Deutschen verwenden wir stattdessen die Bezeichnung Schneeballsystem – ein System, bei dem die Zinsen der älteren Anleger mit den Anlagesummen der neuen Anleger gedeckt werden. Das modernere Pendant zu Ponzi ist Bernard Madoff, mit seinem Ponzi-Scheme einen Schaden von etwa 60 Mrd. Dollar verursacht hat. Gleiches Schema auch bei der Ansprache der “Kunden”: Ponzi und Madoff haben für ihre Machenschaften ihre jeweilige ethnische und soziale Wir-Gruppe ausgenutzt.

Wir haben nun die Bedingungen und gravierende Folgen von Wir-Gruppen im Positiven und Negativen kennen gelernt. Diese gibt es natürlich auch einige Nummern kleiner – und auch nicht nur in den USA, sondern weltweit.

So sind wissenschaftliche Studien beispielsweise zu den folgenden Erkenntnissen gelangt:

  • In Indien räumen Kreditsachbearbeiter Bewerber:innen der gleichen Religion bessere Rahmenbedingungen ein. Interessanterweise gilt das auch umgekehrt: Bei gleicher Religionszugehörigkeit ist auch die Rückzahlung der Kreditnehmer wahrscheinlicher.

  • In Ghana sind die verhandelten Taxipreise für Unterstützende der gleichen Partei niedriger. Das gilt aber nur für die Zeit kurz vor und nach einer Wahl, wo diese Präferenzen öffentlich sichtbar gemacht werden. Wir sehen hier einen Gestaltungsansatz: Das Sichtbarmachen von Gruppen-Zugehörigkeit beeinflusst geschäftliches Handeln.

  • Zum Schluss noch ein Beispiel, das nicht in den Business-Bereich fällt. Psycholg:inn:en kennen die Lost-Letter-Technik. Unterschiedliche Varianten von Briefen werden “verloren”. Über die Quote der Rücksendungen erhofft man sich Aufschluss über Aspekte der Einstellung gegenüber der Varianten. In Polen wurde nun untersucht, wie häufig Briefe an einen Adressaten mit dem Nachnamen “Maciej” versus mit dem Nachnamen “Mohammed” verschickt werden.

    Dabei stellt sich – vielleicht nicht überraschend – heraus, dass die Quote für Maciej höher ist als für Mohammed. Auch hier gibt es noch einen interessanten Zusatzaspekte: Wenn das gleiche Experiment um Weihnachten durchgeführt wird, steigt die Quote für Maciej um 12 %. Das liegt aber nicht an der freundlich-hilfsbereiten weihnachtlichen Grundstimmung, denn für Mohammed sinkt sie um 30 %. Wir können nur vermuten, dass auch hier der Einfluss einer ethnisch-sozialen Wir-Gruppe wirksam ist.

Sehen wir uns einige Beispiele aus der Politik an.

Vielleicht kennen Sie die Unterscheidung in schwarze, weiße und blaue Lügen – also Lügen die vor allem positive Folgen für mich als Lügner, für mein Gegenüber oder für beide Parteien haben. Womit wir bei dem Wort “Parteien” schon mitten in der Politik und den davon betroffenen Wir-Gruppen sind. Wie stark dieser Einfluss ist, zeigt sich an diversen Studienergebnissen. Hier wurden Mitglieder einer Partei nach moralischen Präferenzen befragt. Diese bewerten Lügen zum Stärken der politischen Wir-Gruppe im Vergleich zur wahrheitsgemäßen Auskunft zu deren Schaden als moralisch überlegen.

Im Blog des Scientific American bewertet Jeremy Adams 2017 diese Art von Lügen wie folgt:

This kind of lying seems to thrive in an atmosphere of anger, resentment and hyper-polarization. Party identification is so strong that criticism of the party feels like a threat to the self, which triggers a host of defensive psychological mechanisms.

Smith (2017)

Wenn Sie auch nur geringfügiges Interesse an der US-amerikanischen Politik haben, dann kommt Ihnen diese Beschreibung nicht unbekannt vor. Extreme politische Polarisierung mit entsprechenden Folgen durch die und auf die politischen Wir-Gruppen.

Wenn besonders glühende Parteimitglieder befragt werden, wem sie welche medizinische Behandlung angedeihen lassen würden, sind es weniger die Gesundheitsindikatoren, die ihre Wahl beeinflussen, als mehr die Parteizugehörigkeit.

In Befragungs- und experimentellen Studien zeigt sich, dass viele Einschätzungen und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu politischen Parteien weniger aufgrund von inhaltlichen oder ideologischen Gesichtspunkten erfolgen. Es ist eher eine Frage der Loyalität, die aus dem Wir-Gefühl der Gruppe gespeist wird.

Bei Berichten von Mannschafts-Sportereignissen muss die Kamera nur in die Zuschauer schwenken und wir sehen die Wir-Gruppe am Werk. Fußballfans, die sich in den Armen liegen, vor allem bei Siegen aber auch in der Niederlage – und egal, ob sie sich vorher schon gekannt haben oder nicht. Wir alle kennen diese Bilder und können den Einfluss von Wir-Gruppen im Sport entsprechend gut erkennen. Es gibt auch in diesem Bereich viele Studien, die diesen Einfluss unterstreichen.

Aber auch andere Wir-Gruppen sind im Sport aktiv. So weist eine Studie nach, dass bei Fußballspielen Spieler aus dem Heimatland des Schiedsrichters 10 % mehr positive Entscheide erhalten.

Eine schöne Zusammenfassung vieler Mechanismen von Wir-Gruppen im Sport und auch durch den Sport liefert der Autor Isaac Asimov (zitiert nach Cialdini (2021), die Original-Quelle habe ich leider nicht gefunden):

All things being equal, you root for your own sex, your own culture, your own locality … and what you want to prove is that you are better than the other person. Whomever you root for represents you; and when he [or she] wins, you win.

— Isac Asimov (nach Cialdini, 2021, S. 372)

Der letzte Punkt lässt sich besonders pointiert formulieren: Wenn meine Mannschaft gewinnt, haben WIR gewonnen; wenn meine Mannschaft verliert, haben SIE verloren. Warum ist das so? Die Formulierung schützt uns, indem sie versucht, die Schnittmenge zwischen dem geteilten ich (WE as the shared ME) zu verringern.

Nicht nur im Geschäftlichen oder in der Politik: Auch in unseren rein persönlichen Beziehungen spielen Wir-Gruppen natürlich eine große Rolle. Sie sind das Ergebnis romantischer Beziehungen und guter Freundschaften. Insbesondere die Freundschafts-basierten Wir-Gruppen werden durch bestimmte Geschäftsmodelle angesprochen, die zusammengefasst häufig als F-Commerce – also Friendship-Commerce – bezeichnet werden. Ein Beispiel dafür sind die Friends Stores der Firma Levi’s. Das sind personalisierte Online-Shops, die Produkte enthalten, die Freunden gefallen. Diese Shops haben eine 15 % höhere Verkaufsquote und einen um 50 % höheren durchschnittlichen Verkaufsbetrag.

Facebook hat 2012 versucht, seine Mitglieder aufzurufen, ihre Stimme bei der anstehenden Wahl abzugeben. Der Aufruf war erfolgreicher, wenn er Fotos von FB-Freunden enthielt, die bereits gewählt haben. Und er war umso erfolgreicher, je enger die Freundschaft war.

Der Einfluss guter Freunde über die Wir-Gruppe wird also noch erhöht, wenn es nicht nur gute, sondern die besten Freunde sind. Dieser Einfluss kann sich auch im im Negativen zeigen: So sind das eigene Trinkverhalten und Alkohol-verbundene Probleme eng verknüpft mit dem der besten Freunde.

Eine besondere Form der persönlichen Beziehung haben wir zu unseren Haustieren – und sie zu uns. So konnte nachgewiesen werden, dass Hunde eher dann gähnen, wenn auch Ihre Besitzer:innen gähnen. Nicht aber, wenn unter ähnlichen Versuchsbedingungen Fremde gähnen. Auch hier ist der Einfluss einer besonderen Wir-Gruppe am Werk.

2.9.5 Zusammen gehören

Ganz grob lassen sich zwei ganz grundlegende Ursachen unterscheiden, die zur Bildung von Wir-Gruppen beitragen. Die eine hat ihre Basis in biologischen Mechanismen und bezieht sich auf das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wir werden feststellen, dass trotz des biologischen Ursprungs genügend Raum für gestalterische Interventionen bleibt.

Die zweite Ursache liegt im abgestimmten, synchronen menschlichen Handeln, das zum Erlebnis von Einheit und Zusammengehörigkeit führt.

Werfen wir aber zuerst einen Blick auf das Zusammen-Gehören.

Die biologische Grundlage von Wir-Gruppen bilden natürlich die familiären Verwandtschaftsbande, die wir haben. Je enger die verwandtschaftlichen Beziehungen, desto enger sind diese familiären Bande üblicherweise. Und desto größer ist auch der Einfluss, den die entstehende Wir-Gruppe auf uns ausübt.

Die Basis für diese Wirkmechanismen ist genetisch. Richard Dawkins hat schon 1974 in seinem berühmten Buch The Selfish Gene das Gen als zentrale Bedeutungseinheit in dieser Diskussion herausgestellt (Dawkins, 1976). Die Triebkraft nicht nur der menschlichen evolutionären Entwicklung ist das Gen. Die durch Gene codierten Informationen werden von Generation zu Generation weitergegeben. Da enge verwandtschaftliche Beziehungen auch eine große genetische Schnittmenge implizieren, bedeutet das, dass der Schutz der eigenen genetischen Ausstattung auch über die Sorge für Familienmitglieder erfolgen kann. Radikal formuliert: Nicht das eigene Überleben, sondern das der eignen Gene ist entscheidend. Und das können auch die eigenen Kinder absichern. Verhalten zu Pflege und Schutz der eignen Kinder kann demnach auch aus der Perspektive der egoistischen genetischen Ausstattung gesehen und verstanden werden.

So erleben wir auch subjektiv eine Belohnung, wenn wir Mitgliedern unserer Familie helfen. Auch das ein Mechanismus, der den genetischen Fortbestand unterstützt. Und das gilt auch für Teenager – Cialdini formuliert das spitzzüngig so: “it’s almost as if, by doing so, they are aiding themselves … and this is true even of teenagers!” (Cialdini, 2021, S. 379).

Eine Randnotiz: Falls Ihnen der Name Richard Dawkins nichts sagen sollte: Er ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Evolutionstheorie und diskutiert gerne öffentlichkeitswirksam mit Evolutionsleugnern, Kreationisten u.ä. Diese Auftritte haben ihm auch einen – nicht sehr schmeichelhaften – Gastauftritt in der schwarzhumorigen Zeichentrickserie South Park eingebracht.

Die verwandtschaftlichen Beziehungen werden auch im nicht-familiären Bereich begrifflich verwendet: Begriffe wie Bruder- oder Schwesternschaft, Vorväter, Erbe, Vaterland haben meist keine genetische Gemeinsamkeiten, sollen diese aber ausnutzen. Sie sollen ein entsprechendes Wir-Gefühl erzeugen, das wiederum zu entsprechender Loyalität und zur Bereitschaft führt, für diese Wir-Gruppe Opferbereitschaft zu zeigen.

Biologische Verwandtschaft ist nicht zwangsläufig bekannt und nicht immer offensichtlich. Wie schließen wir auf diese Beziehungen? Wir verwenden Attribute, die in unserer evolutionären Entwicklung hoch mit dem biologischen Verwandtschaftsgrad zusammenhängen – korrelieren. Wir werden noch auf das ein oder andere dieser Attribute zu sprechen kommen. Ein offensichtliches ist die sichtbare Ähnlichkeit. Ähnliche Größe, Körperbau, Gesichtsform, Hautfarbe usw. dienen als Proxy für die Einschätzung von Verwandtschaftsbeziehungen.

Das kann manipuliert werden: Personen, die einschätzen sollten, ob sie politische Kandidaten und Kandidatinnen wählen würden, bewerteten diese umso besser, je ähnlicher sie ihnen äußerlich waren – nachdem die Fotos der Personen entsprechend verändert worden sind.

Auch grundlegende Einstellungen – beispielsweise zu Politik, Religion, Sexualmoral – dienen als Erzeuger familiären Wir-Gefühls. Auch diese Attribute sind Proxys für Verwandtschaft; d. h. es ist eher wahrscheinlich, dass sie familiär weitergegeben worden sind.

Als Argument dafür, dass die familiäre Wir-Gruppe sehr breit sein kann, erzählt Robert Cialdini die beeindruckende Geschichte von Chiune Sugihara. Ich weiß nicht, ob ich Cialdinis Argumentation zu 100 Prozent folgen kann. Die Geschichte ist es aber unbedingt wert, erzählt zu werden. Sie sollten den entsprechenden Abschnitt des Buches daher auch unbedingt lesen5. Sugihara war zur Zeit des zweiten Weltkriegs japanischer Diplomat in Litauen. Er hat eigenmächtig – trotz anderslautender Anweisungen – etwa 6.000 Juden Transitvisa nach Japan ausgestellt und dadurch vermutlich deren Leben gerettet. Aufgrund seiner Handlungen wird er gern als japanischer Oskar Schindler bezeichnet. Nach Cialdinis Ansicht kann Sugiharas familiärer Hintergrund einen Erklärungsansatz bieten: Seine Familie hat in Korea einen Gasthof betriebenen und auch gegenüber den Besuchern große Gastfreundschaft gezeigt, die sich die Unterkunft eigentlich nicht hatten leisten können.

Nach den Gründen für sein Verhalten in Litauen gefragt, führt Sugihara an: “the nationality and religion of the Jews did not matter; it only mattered that they were members, with him, of the human family.” (nach Cialdini, 2021, S. 390)

Das Konzept der Zusammengehörigkeit über Wir-Gruppen lässt sich leicht über die familiäre Grenze hinaus erweitern – auch wenn diese die biologische Basis bildet. Mit dem eigenen Begriff Lokalismus wird beispielsweise die Tendenz bezeichnet, (u.a.) Personen aus der Nachbarschaft zu bevorzugen.

Dazu passend erzählt Cialdini die Anekdote eines Wächters in einem deutschen Kriegsgefangenenlager zur Zeit des zweiten Weltkriegs. Dieser hatte die menschenverachtende Angewohnheit, Druck auf die Gefangenen auszuüben, indem er von den in Reih und Glied angetretenen Insassen jeden 10. Gefangenen erschoss. Als er einmal bei einem bestimmten 10. Gefangenen anlegte, hat er nicht ihn, sondern dessen Nebenmann erschossen. Warum wurde der Gefangene – die eigentliche Nummer 10 – verschont? Antwort: Er stammte aus der gleichen Stadt wie der Wächter. Das ist Lokalismus in seiner brutalsten Form!

Erweitern wir die Perspektive: aus der Stadt wird die Region. Selbst im E-Commerce, in dem Distanzen keine große Rolle mehr spielen, können Regionen doch wichtig werden. So werden Empfehlungen von Amazon-Produkten eher befolgt, wenn sie aus dem gleichen Bundesstaat stammen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung von politischen Maßnahmen spielt die Region eine Rolle: Unterstützung für den Afghanistaneinsatz der USA sinkt, wenn Gefallene aus dem gleichen Bundesstaat kommen.

Noch ein Beispiel aus dem Bereich der kriegerischen Auseinandersetzung: Wenn Kameraden der eigenen Infanterie-Einheit aus der gleichen Gegend kommen, sinkt die Quote von Deserteuren. Hier verhindert die Wir-Gruppe gruppenschädliches Verhalten.

2.9.6 Zusammen handeln

Neben dem Zusammen-Gehören gibt es noch einen zweiten grundlegenden Mechanismus, der die Bildung von Wir-Gruppen unterstützen kann: das gemeinsame Handeln. Wie wir sehen werden, finden wir insbesondere über diesen Mechanismus Ansatzpunkte für Maßnahmen, um die Bildung und Form von Wir-Gruppen gestalterisch zu beeinflussen.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Sie schon mal Filmaufnahmen des Haka gesehen haben – zum Beispiel, wenn die neuseeländische Rugbymannschaft ihn zeigt. Der Haka ist ein ritueller Tanz der Maori, der ursprünglichen Bewohner Neuseelands. Der Haka ist eigentlich kein Kriegstanz, als der er oft interpretiert wird – vermutlich wegen der doch martialisch anmutenden Gestik und Mimik der Tänzer. Sollten Sie nicht wissen, wovon hier die Rede ist: googlen Sie “Haka” und sehen Sie sich unbedingt ein kurzes Video dazu an.

Warum führt die angesprochene neuseeländische Mannschaft den Haka regelmäßig vor ihren Spielen auf? Warum haben quasi alle menschlichen Gesellschaften Wege entwickelt, gemeinsam, koordiniert, unisono zu agieren – sei es über Lieder, Märsche, Tänze oder Gebete?

Eine Antwort ist sicher darin zu finden, dass einheitliches Handeln zu Einheit führt. Mit all seinen Folgen: Gruppensolidarität, Loyalität, Opferbereitschaft – alles übrigens Zeichen familiärer Verbindungen, die wir eben kennen gelernt haben.

Wenn wir möchten, dass sich eine Gruppe eint, stellen gemeinsame Handlungen ein gutes gestalterisches Mittel dar, diesen Prozess zu unterstützen. Wir werden einige Beispiele kennen lernen, in denen das erkannt und umgesetzt worden ist.

Der angesprochene Effekt “gemeinsames Handeln führt zu Einheit” wurde vielfach in unterschiedlichen Experimenten nachgewiesen: Das gemeinsame oder koordinierte Sprechen von Wörtern (in relativ kurzen Labor-Situationen) erzeugt Wir-Gefühl UND koordiniertes Handeln später.

Intensive Kooperation oder gemeinsames Handeln (in kurzen motorischen Tätigkeiten) erzeugt gesteigertes Wir-Gefühl.

Die intensive Kooperation führt zudem zu synchronen Hirnwellenmustern. Wir sind dann sprichwörtlich “auf der gleichen Wellenlänge”. Diese Muster sind zudem ein guter Prädiktor für die anschließende Dynamik sozialen Verhaltens.

Offenbar kann tatsächlich das gemeinsame Handeln zu denselben Konsequenzen führen wie familiäre Bande es tun. Auch gemeinsames, harmonisiertes Handeln – Fingertippen, Körperhaltung anpassen, Lächeln, Gleichschritt – erzeugt eine Wir-Gruppe; mit all ihren Folgen – ein paar Stichpunkte:

  • Die Ähnlichkeit der Handlungen führt zu Sympathie. Prägnanter lässt sich das auf Englisch formulieren: LikeNESS wird zu LikING
  • Kurzzeitig wird der sog. Out-Group-Bias reduziert; O-G-B ist eine negative Einstellung gegenüber den Nicht-Mitgliedern meiner Wir-Gruppe, die aber auch Verhaltensfolgen haben kann.
  • In einem Experiment wurde synchrones Fingertippen eingesetzt. Es zeigt sich eine größere Bereitschaft den Partner bei einer anschließenden Aufgabe zu unterstützen (18 % ohne synchrones Fingertippen, 49 % mit)
  • Wir finden den Marsch im Gleichschritt in den meisten Armeen der Welt
  • Die koordinative Kraft der Musik (konkret: das gemeinsame Singen, Tanzen, Bewegen …) erhöht die Opferbereitschaft – selbst schon bei Dreijährigen!

Eine besondere Form des synchronen Handelns ist der sog. wiederholte reziproke Austausch. Reziprozität kennen wir schon als eigenen Einflussmechanismus. Die Bezeichnung bezieht sich hier auf das schrittweise Enthüllen von persönlichen Information – insbesondere auch aus dem höchst-privaten Bereich. Der Grad der Enthüllung – also der enthüllte Grad der Privatheit nimmt hierbei Runde für Runde zu. Das Schema ist einfach: A enthüllt B, B enthüllt A usw. Unter den angegebenen Verweisen finden Sie Informationen zu den fast schon berühmten 36 Fragen – den “36 Questions for Intimacy” – die als Paar nach dem beschriebenen Schema beantwortete werden sollten. In Aussicht gestellt wird die Vertiefung einer bestehenden oder beabsichtigten persönlichen Beziehung – natürlich gern eingesetzt in Liebesbeziehungen.

Eine weitere Variante des gemeinsamen Handelns ist eher passiver Natur: Es betrifft das Leid das man gemeinsam erfährt. Zu diesem Thema gibt es eine Menge anekdotischer Nachweise und auch das Thema COVID-19 lässt sich unter diesem Gesichtspunkt analysieren – (Ist beispielsweise im gemeinsamen Erleiden nationaler Traumata durch gewaltige Todeszahlen das anschließende Impfverhalten zu erklären?). Es gibt aber auch belastbare experimentelle Ergebnisse zu diesem Thema: So nimmt der Zusammenhalt in der Gruppe dadurch zu, dass die Mitglieder in einer Versuchsbedingung ihre Hände gemeinsam über einen längeren Zeitraum in Eiswasser tauchen müssen.

Als letzte Art des gemeinsamen Handelns werfen wir einen kurzen Blick auf das Co-Creation – also das gemeinsame Arbeiten an Projekten oder Erzeugen von Dingen im weiteren Sinn. Wir müssen dieses Phänomen zuerst vom IKEA-Effekt abgrenzen. Dieser bezieht sich auf die gesteigerte Wertschätzung, die wir Dingen entgegenbringen, die wir selbst – auch allein – erzeugt haben; selbst wenn deren Wert objektiv nicht unserer Einschätzung entspricht. Das Phänomen des gemeinsamen Beitrags an Projekten hat Cialdini in einem Experiment mit Managern untersucht. Seine Ergebnisse sind interessant und zum Teil überraschend.

Nicht überraschend sind die beiden ersten Resultate:

  1. Je größer wahrgenommene Mitwirkung von Managern an dem Projekt war, desto höher die Bewertung der Qualität des Ergebnisses – sie steigt um 50%.

  2. Je größer die wahrgenommene Mitwirkung der Manager am Projekt, desto größer ist die wahrgenommene eigene Verantwortung für das Ergebnis.

Überraschend war allerdings das dritte Ergebnis: (3) Je größer die wahrgenommene eigene Verantwortung der Manager für den Erfolg des Projekts, desto größer ist die Zuschreibung des Erfolgs an die engsten Mitarbeiter. Tatsächlich kein sehr intuitiv eingängiges Resultat. Wie kann das sein? Insbesondere, wenn wir von 100 % Verantwortung ausgehen, die verteilt werden kann?! Eine mögliche Erklärung liefern unsere Venn-Diagramm von einer der ersten Folien: Innerhalb von Wir-Gruppen verschmelzen Identitäten. Damit teile ich meine Verantwortung mit meiner engen Mitarbeiterin und komme in Summe nicht über die 100 % hinaus. Also auch hier: WE as the shared ME!

In Stichpunkten einige abschließende Beobachtungen zu Co-Creation bzw. Kooperation. Es gibt in der Entwicklungspsychologie den stehenden Ausdruck der Terrible Twos – der schrecklichen Zweijährigen; ein Alter zwischen Trotz und Selbstfindung. Noch nicht viel besser in Sachen altruistisches Verhalten ist der Ruf der Dreijährigen. Umso überraschender ist es, wenn Kinder in diesem Alter die Belohnung, die sie sich zusammen mit einem anderen Kind erarbeitet haben, selbständig gerecht untereinander aufteilen.

Im schulischen Umfeld zeigen sich die klassischen Koalitionen und Freundschaftsbildungen nach Ethnie, Race und sozioökonomischem Status. Aber auch hier zeigt sich, dass durch die gemeinsame Arbeit in einer Übung zum kooperativem Lernen klassische Wir-Gruppen aufgebrochen werden können.

Auch Firmen haben die Kraft von Co-Creation für sich entdeckt, wenn sie gemeinsam mit Kunden Produkte entwerfen (lassen). Wichtig in diesem Zusammenhang ist allerdings ein besondere Aspekt, diese Zusammenarbeit zu beschreiben: Der Beitrag der Kund:innen muss als Ratschlag verpackt werden!

Es ist dieses Um-Rat-Fragen, das zu einer Annäherung und Verschmelzung der Identitäten führt – zumindest zu einer erhöhten Bereitschaft, Verhalten in diese Richtung zu zeigen.

Ein Experiment zu diesem Thema weist nach, dass es nicht ausreicht, nur Feedback einzuholen: Dabei wurden zwei Gruppen nach ihrer Einschätzung des neuartigen Geschäftskonzepts der Restaurantkette Splash! gefragt. Eine Gruppe wurde um Rückmeldung gebeten, die andere nach Ratschlägen. Im Anschluss zeigt sich, dass die zweite, beratende Gruppe das Restaurant mit größerer Wahrscheinlichkeit besuchen möchte.

Wir stimmen vermutlich alle mit Benjamin Franklin überein, der zum Thema Ratschläge folgendes kommentiert hat: “We all admire the wisdom of those who have come to us for advice.” (nach Cialdini, 2021, S. 414).

Zum Thema Co-Creation – hier eher im fiktivem Bereich - hat Dilbert auch Dilbert noch einen Tipp für uns: Bossification. Wenn Sie eine gute Idee umsetzen wollen, unterstellen Sie sie ihrem Chef! Manchmal muss man die Lorbeeren teilen, um zumindest einige davon zu bekommen…

2.9.7 Zusammenfassung

Bringen wir die zentralen Punkte des Themas Einheit zusammen in die Übersicht: Einheit, Unity ist die Erfahrung von Wir-heit – das Englische WE-ness klingt besser. Auch in der Formel: WE is the shared ME.

Diese geteilten Identitäten entstehen insbesondere entlang unserer Ethnie, Race, Nationalität, Familie, Religion, politischen Orientierung.

Zwei grundlegende Kennzeichen einer Wir-Gruppe bestehen darin, dass Mitglieder das Wohlergehen von Mitgliedern dem von Nicht-Mitgliedern vorziehen und dass sie ihre Präferenzen und Handlungen aneinander orientieren.

Die Basis dafür liefert die evolutionäre Entwicklung unserer genetischen Ausstattung. Das Wohlergehen von Wir-Gruppen führt zum Fortbestand der eigenen Gene – auch, aber nicht nur über das eigene Wohlergehen. Die biologischen Mechanismen finden aber auch in weiteren, ganz unterschiedlichen Bereichen Anwendung: Businesswelt, Politik, Sport, persönliche Beziehungen. Zwei sehr grundlegende Mechanismen führen zur Bildung von Wir-Gruppen: zusammen gehören und zusammen handeln.

Die Zusammengehörigkeit hat ihren Ursprung in den Gemeinsamkeiten durch die biologische Verwandtschaft – wir sehen die angesprochene genetische Basis. Sie funktioniert aber auch über geographische Attribute, die ja auch häufig mit der biologischen Verwandtschaft korreliert sind (gleiche Heimat, Nachbarschaft oder Region).

Literatur

Cialdini, R. B. (2021). Influence: The psychology of persuasion. HarperCollins.
Dawkins, R. (1976). The selfish gene. Oxford University Press.
Smith, J. A. (2017). How the Science of “Blue Lies” May Explain Trump’s Support. Zugriff am 15.08.2022. https://blogs.scientificamerican.com/guest-blog/how-the-science-of-blue-lies-may-explain-trumps-support/