2.3 Reziprozität

Reziprozität – oder Wechselseitigkeit – bezeichnet die Gegenseitigkeit im sozialen Austausch. In einfachem Deutsch: Wie du mir, so ich dir – oder aber auch: eine Hand wäscht die andere. Diese Gegenseitigkeit ist ein wichtiger Bestandteil unseres sozialen Zusammenlebens. Ohne Reziprozität würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Sie ist damit ein sozialer Kitt, der zu Verhalten führt, das vorteilhaft für ein Zusammenleben ist. Schauen wir uns das genauer an.

Wenn ich jemandem etwas Gutes tue, setze ich denjenigen oder diejenige unter Druck. Die Person fühlt sich genötigt, mir das empfangene Gut zu vergelten; es durch einen Gefallen, erwiesene Wertschätzung oder ein tatsächliches Geschenk.

Es ist schwer, sich gegen den Einfluss zu wehren, den solche Gefälligkeiten ausüben. Das Gute, das uns andere tun, ist ein mächtiger Hebel, um unser daran anschließendes Verhalten zu beeinflussen. Um unser Konto des sozialen Austauschs wieder in die Balance zu bringen, wird von uns erwartet – und so empfinden wir das auch – dass wir die Gefälligkeit erwidern. Wenn die Umstände für eine Erwiderung ungünstig sind, nehmen wir vielleicht sogar in Kauf, dass wir der anderen Person eine größere Gefälligkeit erweisen, als sie uns ursprünglich erwiesen hat. Das ist erstaunlich – und erstaunlich wirkungsvoll. Eine Einschränkung ist trotzdem angebracht. Reziprozität funktioniert natürlich nicht immer und überall. Es gibt Personen, die erwiesene Gefallen ausnutzen. Dieses Verhalten ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Wir haben für solche Personen entsprechend negative Bezeichnungen: Schmarotzer, Trittbrettfahrer, Nassauer oder Schnorrer.

Der Mechanismus der Reziprozität hat zur Folge, dass wir – im Großen und Ganzen – relativ risikolos in Situationen des Austauschs von Gefälligkeiten gehen können. Wir starten mit einem Gefallen. Unser Gegenüber wird den Gefallen vermutlich erwidern, um das Konto auszugleichen. Reziprozität am Werk!

Eine besondere Form der Reziprozität ist das Neuverhandeln nach Zurückweisen: Angenommen, jemand kommt auf Sie zu und bittet Sie im Namen des Roten Kreuzes darum, dass Sie über drei Jahre hinweg alle sechs Wochen Blut spenden. Dieser Gefallen ist Ihnen dann doch etwas zu viel verlangt. Sie weisen die Bitte zurück. Unmittelbar anschließend werden Sie gefragt, ob Sie bereit wären, einmal Blut zu spenden. Sie sagen zu. Einmal scheint in Ordnung. Was ist passiert? Nachdem Sie die Bitte abgeschlagen haben, war Ihr Konto des sozialen Austauschs nicht mehr ausgeglichen. Sie waren im Soll. Durch die Bitte um einmaliges Blutspenden wird Ihnen sofort die Möglichkeit geboten, das Konto auszugleichen. Sie nehmen Sie dankbar an. Auch hier: Reziprozität am Werk!

Einige Beispiele zur Reziprozität. Das erste stammt aus einer psychologischen Untersuchung im Rahmen eines Experiments. Es wurde von Dennis Regan bereits 1971 durchgeführt. Ein Proband sollte an einem Versuch vorgeblich zum Thema Kunstverständnis teilnehmen. Eigentlich ging das Experiment aber um etwas anderes. Ein zweiter scheinbarer Teilnehmer war tatsächlich der Assistent von Regan. Dieser verließ kurz das Versuchslabor und brachte dem eigentlichen Proband:innen eine Flasche Cola mit. Nach dem Pseudo-Versuch zum Kunstverständnis bat der Assistent den Proband:innen darum, ihm einige Lose abzukaufen. Kurz zur Einordnung: In den 70ern war der Kauf & Verkauf von Losen in den USA recht weit verbreitet. Der Preis für die Lose war dabei höher als der für die Cola. Die Bereitschaft der Proband:innen, dem Versuchskollegen Lose abzukaufen, wurde mit der einer Kontrollgruppe verglichen, der kein Cola spendiert wurde. Was war das Ergebnis? Es stellt sich heraus, dass die Proband:innen, die eine Cola erhalten haben, in etwa doppelt so viele Lose kaufen wie die Kontrollgruppe. Dabei wurde kontrolliert, ob der Effekt möglicherweise auf gesteigerte Sympathie zurückzuführen ist: “Weil er uns eine Cola mitgebracht hat, ist uns der Kollege sympathischer, deshalb kaufen wir die Lose”. Das war aber nicht der Fall. Es war vor allem die Reziprozität, die zu dem unterschiedlichen Kaufverhalten führt.

Wenn Sie jemand kennen, der in einem Lokal oder Restaurant als Bedienung arbeitet, ist das Ergebnis des folgenden Versuchs ganz hilfreich. Sie präsentieren den Gästen zum Ende ihres Besuchs die Rechnung. Zur Rechnung legen Sie ein Stück Schokolade. Das erhöht Ihr Trinkgeld geringfügig im Vergleich zur Kontrollbedingung ohne Schokolade. Noch weiter können Sie das Trinkgeld steigern, wenn Sie aus einem zwei Stück Schokolade machen. Der Turbo-Boost fürs Trinkgeld ist aber, wenn Sie erst ein Stück zur Rechnung legen, sich scheinbar zum Gehen abwenden, kurz zögern, zum Tisch zurückkommen und mit einem Lächeln ein zweites Stück zum ersten legen. Diese Freundlichkeit Ihrerseits muss durch entsprechende Freundlichkeit bei der Gestaltung des Trinkgelds vergolten werden. Natürlich auch hier: Reziprozität am Werk!

Ein drittes Beispiel: Vielleicht kennen Sie die Unicef-Weihnachtskarten. Die werden vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen jährlich in der Vorweihnachtszeit verschickt. Aus wirtschaftlicher Sicht durchaus ein Risiko. Diese ca. 10 Karten sind qualitativ hochwertig und werden verschickt, ohne dass sie bestellt worden wären. Warum kann Unicef dieses geschäftliche Risiko eingehen? Antwort: Weil auch hier die Reziprozität wirkt. Viele Menschen, die die Karten bekommen, sehen sich in der Pflicht, mit Hilfe des beiliegenden Überweisungsformulars einen kleinen Betrag zu überweisen, um ihr Konto der erwiesenen Freundlichkeiten auszugleichen.

Reziprozität ist aus der Perspektive der Gesellschaft ein sozialer Kitt. Aus der Sicht jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft ist es vor allem eine Möglichkeit, Verhalten zu vereinfachen – ein Entscheidungs-Shortcut. Und wir wissen inzwischen, wie wichtig es ist, Verhalten möglichst einfach zu gestalten. Wie kommt die Vereinfachung zustande? Durch heuristische Regeln; durch Daumenregel: Wie du mir, so ich dir. Das ist eine Verhaltensempfehlung, der ich blind folgen kann, ohne darüber nachdenken zu müssen. Wenn ich anderen das vergelte, was sie mir Gutes (oder auch Schlechtes) tun, muss ich meine Aktionen nicht großartig planen. Das kann ganz ohne große Abwägungsprozesse passieren.

Wenn Sie selbst Reziprozität einsetzen wollen, um Verhalten zu beeinflussen, können Sie folgende Tipps beherzigen:

  • Geben Sie als erster – ohne große Absicherung; vertrauen Sie auf die Reziprozität.
  • Personalisieren das Gute, das Sie tun. Die Bedienung sollte den Eindruck erwecken, dass das zweite Stück Schokolade zur Rechnung angeboten wird, “weil Sie mir besonders sympathisch sind”. Es sollte der Eindruck erweckt werden, dass speziell für einen Adressaten etwas geleistet worden ist. Sobald klar wird, dass die Leistung allgemein und ohne individuelle Unterscheidung angeboten wird, verliert sie an Wirkung.
  • Besonders wirksam ist die Reziprozität, wenn sie nicht erwartet wird, das Gute also überraschend erwiesen wird.

Wenn wir an unser Beispiel mit der Blutspende zurückdenken, könnten wir meinen, dass sich die so Manipulierten möglicherweise übervorteilt vorkommen und mit ihrer Entscheidung, einmalig Blut zu spenden unzufrieden sein könnten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Verglichen mit Personen, die nicht mit der Neuverhandeln-nach-Zurücktreten-Masche bearbeitet worden sind, sind sie sogar noch zufriedener mit ihrer Entscheidung und fühlen sich auch mehr in der Verantwortung, auch zukünftige Blutspendetermine wahrzunehmen.

Für einen besonderen Aspekt der Reziprozität stoßen wir in den Bereich der Fairness vor. Das Diagramm dazu stellt die Ergebnisse folgender Befragung dar: Versuchsteilnehmer sollten sich vorstellen, dass ihre Festplatte crasht und Daten des letzten Monats bzw. der letzten fünf Jahre verloren gehen. Dann sollten sie einschätzen, wie viel sie jeweils bereit wären, für die Datenwiederherstellung zu bezahlen. Eine Zusatzbedingung beschreibt die Zeit, die ein Techniker zur Wiederherstellung benötigt. Diese beträgt entweder 5 Minuten oder 12 Stunden. In den resultierenden Bewertungen beobachten wir zum einen, dass das Datenvolumen deutlichen Einfluss ausübt: Mehr gerettete Daten bedeuten, dass die Proband:innen bereit wären mehr zu bezahlen. Interessant ist vor allem, dass dieser Effekt überlagert wird vom Einfluss des zeitlichen Aufwands: Je mehr Aufwand der Techniker leisten muss, desto mehr sind die Befragten bereit zu bezahlen. Auch hier ist unter der Überschrift Fairness die Reziprozität im Spiel. Der Aufwand des Technikers ist bei der Einschätzung des Wertes der Leistung offenbar zu berücksichtigen.

Einer der Wissenschaftler, die diese Studie durchgeführt haben, ist Dan Ariely. Ein Psychologe und Verhaltensökonom. Er erzählt an anderer Stelle eine Anekdote von einem befreundeten Schlosser, die denselben Punkt illustriert. Häufig wird dieser Freund beauftragt, verschlossene Türen zu öffnen. Zu Beginn seiner Tätigkeit benötigte er dafür mühselige 30 Minuten. Die Aufgabe war noch neu und daher relativ schwierig. Er bekam aber durchweg hohe Trinkgelder nach getaner Arbeit. Im Laufe der Zeit nimmt seine Expertise zu. Er erledigt den Job nun in etwa 2 Minuten. Objektiv betrachtet ist die Situation für seine Auftraggeber dadurch deutlich besser geworden. Sie können nun eher wieder in ihre Wohnungen im Vergleich zu früher. Trotzdem bekommt der Schlosser nun deutlich weniger Trinkgeld. Warum? Wir haben einen Verdacht, der auch zutrifft: Der Aufwand, der zu kompensieren ist, ist nun offenbar deutlich geringer. Es wird nicht nur für das Ergebnis bezahlt, sondern auch für den Weg der dahin führt. Wenn dieser Weg nicht als anstrengend eingeschätzt wird, ist auch keine Kompensation erforderlich.

Das ist eine sehr interessante Beobachtung, wenn wir beispielsweise an den Bereich des E-Commerce denken. Welchen Aufwand erfordert die Erstellung bzw. der Vertrieb digitalisierter Produkte. Häufig gar keinen. Insbesondere die Vervielfältigung digitalisierter Produkte erfolgt ohne Kosten; quasi zu Grenzkosten von Null. Auch für die Erzeugung derartiger Produkte ist es schwer, den dazu erforderlichen Aufwand darzustellen. Das hat zur Folge, dass potenzielle Kunden keinen Aufwand wahrnehmen, der eine entsprechende preisliche Kompensation erforderlich machen würde. Hier ist keine Reziprozität nötig! Keine guten Nachrichten für viele digitalisierte Bereiche. Was ist die Lehre, die wir daraus für den E-Commerce und verwandte digitalisierte Bereiche ziehen können? Es ist auch hier sehr wichtig, den entstandenen Aufwand darzustellen. Selbst wenn das Kopieren reibungsfrei erfolgt, sind die Fixkosten der Herstellung häufig enorm. Dann ist es besonders wichtig, diese Kosten – diesen Aufwand – klar zu vermitteln.

Das gilt ganz allgemein für Leistungen, für die es schwer ist einen Aufwand einzuschätzen. Potenzielle Kunden bewerten nicht nur den Vorteil, der durch die Leistung für sie entsteht. Sie bewerten zudem den Aufwand, der dem Leistungserbringer entsteht und sind bereit, diesen zu honorieren.