3.3 Anstrengung, Selbstkontrolle, Willenskraft

Wie wir inzwischen wissen, hat ein überraschend großer Teil (zur Erinnerung: Wood sagt 43 %), der Dinge die wir täglich tun, habituellen Charakter. Warum ist das so?

Wir kennen die Antwort schon. Das Gegenstück der habituellen Handlung ist die intentionale Handlung – die Handlung auf Grundlage von exekutiver Kontrolle, auf Grundlage von kognitiven Ressourcen. Diese Ressourcen sind jedoch begrenzt, da ihre Bereitstellung Energie benötigt. Es ist also ein haushälterischer Kniff unserer Kognition, dass sie – wenn möglich – Verhalten unter Autopilot erfolgen lässt und nur eingreift, wenn es nötig ist. Das kommt uns sehr bekannt vor: Es geht um das Zusammenspiel von System 1 und 2. Experimentelle Studien zum Thema ergeben regelmäßig, dass intentionale Tätigkeiten häufig von etablierten Gewohnheiten abgelöst werden, sobald die exekutive Kontrolle (System 2) ausgelastet bzw. anderweitig beschäftigt ist. Habits erfordern keine kognitive Ressourcen. Im Gegensatz zu intentionalen Handlungen, strengen sie uns nicht an.

Aufgabe

Informieren Sie sich im vierten Kapitels aus Wood (2019) zur Limo-Studie; hier finden Sie das PDF. Unter welchen Bedingungen trinken die Proband:innen Limo? Unter welchen nicht?

Unter welchen Bedingungen ist unser Autopilot aktiv? Wann übernimmt die kognitive Kontrolle?

Transfer-Aufgabe: Wie beeinflussen Gewohnheiten die Leistung bei Stroop-Test?

Auch Selbstkontrolle ist anstrengend. Wir alle kennen Walter Mischels berühmten Marshmallow-Test (Mischel, 2014): Kinder sitzen unter langweiligen Laborbedingungen vor einer Süßigkeit; wenn sie diese nicht essen, wird ihnen eine weitere Süßigkeit versprochen (falls Ihnen das nichts sagen sollte: ergoogeln Sie sich unbedingt ein Video dazu!).

Vordergründig geht es hier um die Selbstkontrolle der Kinder, die auf eine harte Probe gestellt wird. Es gibt aber einen Aspekt dieses Untersuchungsparadigmas, das häufig ignoriert wird: Wenn die Kinder bestimmte Eigenschaften der Situation verändern – beispielsweise indem sie die Süßigkeiten verstecken, den Blick abwenden o. ä. –, klappt es mit dem Warten deutlich besser.

Es gibt auch einen psychometrischen Fragebögen zur Selbstkontrolle von Tagney und Kollegen (Tangney et al., 2018), der schon in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt worden ist. Hier finden Sie eine beispielhafte Implementierung der Self Control Scale.

Die Ergebnisse sind eindeutig: Personen mit höheren Scores (demnach also hoher Selbstkontrolle), haben bessere Noten, bessere Beziehungen, ernähren sich besser und leben gesünder.

Die Beziehung zwischen Selbstkontrolle und den positiven Konsequenzen sind seit geraumer Zeit umstritten. Das ist aber nicht unser Fokus. Wir möchten wissen, was zu diesen hohen Testscores führt? Ist es wirklich Selbstkontrolle, ein eiserne Wille, die sprichwörtliche “White-Knuckles”-Taktik? Das würde sehr gut zur amerikanisch-protestantischen Arbeitsethik passen. Zudem sind die allermeisten Menschen auch davon überzeugt, wie wir weiter oben schon ausgeführt haben.

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, möchte ich Ihnen die Ergebnisse von drei Studien vorstellen.

  1. Die Ergebnisse einer Studie von Hofmann et al. (2012) zeigen, dass ihre Proband:innen Versuchungen meistens widerstehen können; im Schnitt in 83 % der Fälle. VPs mit hohen SCS-Scores erleben weniger Verlangen (Desires), weniger Konflikte mit ihren Zielen. VPs mit niedrigen SCS-Scores zeigten starkes Verlangen und ausgeprägte Konflikte mit ihren Zielen.

Wo liegt die Ursache für dieses unterschiedliche Verhalten? Teilnehmer:innen mit hohen Selbstkontrollscores erreichen diese nicht durch ausgeprägte Standhaftigkeit im Auge der Versuchung. Sie erleben schlicht weniger Versuchungen. Dazu ein wunderbare Zitat mit Bezug zu Walter Mischel: “They [VPs mit hohen SCS-Scores; SCS+] were living their lives in a way that hid the marshmallow almost all the time” (Wood, 2019, S. 72). Akte anstrengender Selbstverleugnung sind nur eine sehr kurzfristige Lösung eines Selbstkontroll-Problems; der sprichwörtliche Finger im Damm. Sie ist die Zuflucht von VPs mit niedrigen SCS-Scores.

Was aber machen die Personen mit hohen SCS-Scores konkret anders? Worin liegt das Geheimnis reduzierter Versuchung? Die Antwort der Autoren der Studie: (unter anderem) Gewohnheiten! Diese VPs haben Gewohnheiten entwickelt, die verhindern, dass sie Zielkonflikten ausgesetzt werden.

  1. Wie auch eine Studie von Galla & Duckworth (2015) unterstreicht: SCS+ berichten über viele positive Routinen; sie treiben mehr Sport und ernähren sich gesünder. Dazu Wood: “High ‘self-controllers’ achieved desired outcomes by streamlining, not struggling” (Wood, 2019, S. 74).

  2. Eine viel-zitierte Meta-Analyse von De Ridder et al. (2012) zeigt, dass Selbstkontrolle über die Entwicklung (bzw. das Brechen) von Gewohnheiten erfolgt. Stabile Verhaltensmuster sind demnach relevanter für Selbstkontrolle als Akte der Kasteiung (vgl. unsere white-knuckles-Strategie). Quintessenz: SCS+ sind Profis beim Automatisieren. Sie entschärfen die Versuchungen ihrer Umgebung. Sie tun gleiches zur gleichen Zeit am gleichen Ort

Was heißt das nun für die SCS als Messinstrument von Selbstkontrolle? SCS+ scheinen nichts davon zu tun, was die Skala misst. Statt Selbstkontrolle zu messen, scheint es ein Maß für die Entwicklung guter Gewohnheiten und für die entsprechende Gestaltung der eigenen Lebenskontexte zu sein. Anstatt die Effekte der “Selbstkontrolle” abzubilden, misst SCS eigentlich die situative Kontrolle.

Aufgabe

Erklären Sie die beiden folgenden Zitate von Wendy Wood:

  • They [VPs mit hohen SCS-Scores] were living their lives in a way that hid the marshmallow almost all the time” (Wood, 2019, S. 72)
  • “High ‘self-controllers’ achieved desired outcomes by streamlining, not struggling (Wood, 2019, S. 74).

P. S.: Gerade eben (08.08.2022) bin ich online über einen Glückskeks-Spruch gestolpert, der gut zu unserem Thema passt:

Glückskeks zum Thema Vesuchungen

Figure 3.2: Glückskeks zum Thema Vesuchungen

Literatur

De Ridder, D. T., Lensvelt-Mulders, G., Finkenauer, C., Stok, F. M., & Baumeister, R. F. (2012). Taking stock of self-control: A meta-analysis of how trait self-control relates to a wide range of behaviors. Personality and Social Psychology Review, 16(1), 76–99.
Galla, B. M., & Duckworth, A. L. (2015). More than resisting temptation: Beneficial habits mediate the relationship between self-control and positive life outcomes. Journal of Personality and Social Psychology, 109(3), 508. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4731333/
Hofmann, W., Baumeister, R. F., Förster, G., & Vohs, K. D. (2012). Everyday temptations: An experience sampling study of desire, conflict, and self-control. Journal of Personality and Social Psychology, 102(6), 1318. http://assets.csom.umn.edu/assets/lib/assets/AssetLibrary/2012/Hofmann_Baumeister_Forster_Vohs_2012_JPSP.pdf
Mischel, W. (2014). The marshmallow test: Understanding self-control and how to master it. Random House.
Tangney, J. P., Boone, A. L., & Baumeister, R. F. (2018). High self-control predicts good adjustment, less pathology, better grades, and interpersonal success. In Self-regulation and self-control (pp. 173–212). Routledge.
Wood, W. (2019). Good habits, bad habits: The science of making positive changes that stick. Pan Macmillan.