4.5 Econs & Humans

Im Abschnitt Econs & Humans führen Thaler und Sunstein die entscheidungspsychologische Grundlage für ihren Ansatz etwas weiter aus. Wir können da eher schnell drüber gehen. Das ist Thema unserer Veranstaltung “Allgemeine Psychologie 2” im zweiten Semester.

Trotz seiner Einfachheit bietet die Beschreibung von System 1 und 2 als kognitive Architektur einen sehr hilfreichen Diskussions- und Verständnisrahmen. Die Shepard-Tische sollen das Spannungsfels von System 1 und 2 illustrieren. Einerseits wissen wir, dass die Tischoberflächen im Zweidimensionalen identisch (kongruent!) sind – andererseits haben wir noch immer einen anderen Eindruck.

Die angesprochenen kognitiven Verzerrungen und Heuristiken haben alle einen deutlichen Bezug zur Arbeitsweise von System 1 und 2. Bei den Heuristiken (z. B. Repräsentativität, Verfügbarkeit, Affektheuristik) wird immer eine schwierigere Frage durch eine leichtere ersetzt. Für den leichteren Ersatz sorgt meist ein Mechanismus von System 1 – dem schnellen Denken, das immer aktiv ist und keine kognitiven Ressourcen benötigt. Als mathematische Metaphern für die Arbeitsweise von S1 und S2 kennen wir zwei Multiplikationsaufgaben. Die Antwort auf 2 mal 2 passiert uns. Wir müssen nicht rechnen oder uns sonst irgendwie anstrengen. Das macht System 1 für uns. Die Antwort auf 17 mal 24 passiert uns nicht. Hier müssen wir uns anstrengen, damit wir auf die Lösung kommen. Das ist ein Job für System 2.

Kahneman vergleicht die Arbeitsweise von System 1 mit der Arbeitsweise unserer Wahrnehmung. Beide sind schnell, erfolgen ohne Anstrengung und automatisch. Das reflektive System 2 hingegen ist langsam, erfordert Anstrengung und kommt deshalb nicht immer zum Zug – selbst in Situationen, in denen es das vielleicht sollte.

Wir haben mit der assoziativen Kohärenz, der Attribut-Ersetzung und der kognitive Leichtigkeit drei grundlegende Mechanismen für System 1 kennen gelernt.

Dazu nur ein Beispiel: Die assoziative Kohärenz führt dazu, dass Sie die dargestellte Zeichnung eher als Ente wahrnehmen, wenn Sie kurz vorher “Quak, quak” hören oder auch nur lesen. Sie sehen eher einen Hasen, wenn Sie vorher an Ostern gedacht haben. Hier haben wir Priming am Werk!

4.5.1 Selbstkontrolle

Vor diesem Hintergrund besprechen Thaler und Sunstein einige Phänomene als Ansatzpunkte für Nudges. Wir sehen hier den Bezug zu den Ausführungen von Wendy Wood (vgl. Kapitel 3 zu Gewohnheiten): Selbstkontrolle nicht als heroische und selbstkasteiende Persönlichkeitseigenschaft, sondern als die Fähigkeit, weitsichtig Kontrolle über die Situation auszuüben. Die unausweichliche Anekdote zu diesem Thema beschreibt, wie sich Odysseus von seinen Kameraden an den Mast binden lässt. Sie segeln im Gebiet der Sirenen, deren Gesang Seeleute regelmäßig in unschiffbare Gewässer führt. Daher werden allen Seeleuten bis auf Odysseus die Ohren mit Wachs verschlossen. Durch seine Fesseln kann er nicht auf den – inzwischen sprichwörtlichen – Gesang der Sirenen reagieren, ihn aber trotzdem hören. Odysseus hat die mangelnde Urteilsqualität seines zukünftigen Ichs vorweggenommen und die Situation so gestaltet, dass das nicht zu seinem Nachteil sein wird. Er hat die Strategie des Pre-Commitment angewendet.

Wenn wir einen Regeltermin mit Freund:innen vereinbaren, um zu lernen oder Sport zu treiben, ist auch das ein soziales Pre-Commitment. Ein Verstoß gegen das Commitment wird unwahrscheinlicher, da es mit sozialen Kosten verknüpft ist. Die übergewichtige Cousine von Wendy Wood, die ihre Diätabsichten auf Sozialen Medien postet, committet sich ebenfalls auf diese soziale Art und Weise. In die Kategorie von Commitment-Devices fallen auch Apps, die ich so einstellen kann, dass ich bestimmte – vielleicht potenziell stark ablenkende Social Media Apps – nur zu bestimmten Zeiten verfügbar habe.

Auch die berühmte Geschichte Richard Thalers, der seinen Freunden vor dem gemeinsamen Essen die Cashew-Nüsse vom Tisch nimmt, gehört zur situativen Kontrolle.

Alle diese Ansätze zielen darauf ab, dass wir den Kontext so verändern, dass wir eben KEINE Selbstkontrolle in Form andauernder Anstrengung ausüben müssen. Die Anstrengung erschöpft sich in einer einmaligen Aktion: der Gestaltung von situativen Elementen – der Entscheidungsarchitektur.

Den grundlegenden psychologischen Mechanismus haben wir vorher als Intention-Action-Gap bezeichnet. Wir erkennen hier natürlich das Zusammenspiel von S1 und S2. Andere Autoren haben andere Bezeichnungen dafür gefunden: George Loewenstein verwendet den Begriff Hot-Cold-Empathy Gap (Loewenstein, 1999); demnach können wir uns in einem “kalten” Zustand nicht sehr gut in die”heiße” Entscheidungsphase versetzen. Uns geht die Empathie für diesen Zustand ab. Auf die gleiche Diskrepanz zielt das Planner-Doer-Model ab, eine Variante eines sog. Prinzipal-Agenten Modells. Ziele, die den langfristigen Nutzen eines Prinzipals, des Planners, optimieren, stehen der kurzfristigen Nutzenoptimierung des Agenten, des Doers, entgegen.

Der Moralpsychologe Jonathan Haidt verwendet das anschauliche Bild des Reiters auf dem Elefanten (Haidt, 2012 ) – sinnbildlich für das bewusste Denken und das automatische, unbewusste Denken (S2 & S1). Auch wenn der Reiter keine große Macht über den Elefanten hat, kann er zumindest die Verhaltensweisen des Elefanten erklären und rationalisieren.

Aus der Liste an Beispielen für Commitments ist vermutlich Clocky das lebhafteste: Ein Wecker auf Rädern, der es uns am Morgen fast unmöglich macht, ihn zu deaktivieren, ohne aufzustehen. Kein Snooze! Auch Einkaufslisten oder spezielle Spar-Kassen, die einmal pro Jahr geleert werden (Christmas-Clubs sind dafür Beispiele) passen in das Schema.

Es gibt aber auch staatliche Maßnahmen, die uns davon abhalten sollen, in die Planner-Doer-Falle zu tappen – also in Situationen zu kommen, in denen unsere Selbstkontrolle vermutlich nicht immer ausreichen würde. Das staatlich gestaltete Anreizsystem verwendet allerdings meist Gebote, Verbote und Steuern, um erwünschtes Verhalten zu erleichtern – indem unerwünschtes Verhalten teurer wird; sei es durch Steuern oder Strafzahlungen.

Als Prinzipale für die Agenten unserer eigenen Person (also Prinzipal und Agent in einer Person) verwenden wir auch Strategien, um situative Kontrolle auszuüben. Wir erstellen beispielsweise mentale Konten für unsere Ausgaben. Wenn wir Geld auf speziellen – mentalen oder realen – Konten deponieren, können wir es uns erleichtern oder erschweren, dieses Geld auszugeben. Handelt es sich um das House Money, das ich im Casino erst gewonnen habe? Damit gehe ich eher verschwenderisch um. Handelt es sich um die 100 EUR mit denen ich ins Casino gekommen bin? Damit gehe ich sparsamer um.

Dazu die Autoren:

Mental accounting matters precisely because the accounts are treated as nonfungible.(…) see, if we want to encourage savings, it will be important to direct the increased savings into a mental (or real) account where spending it will not be too big a temptation.

Thaler & Sunstein (2021), S. 63

4.5.2 Sozialer Einfluss: Der Herde folgen

Die nächsten Folien beschreiben den sozialen Einfluss auf unsere Entscheidungsfindung, dem wir inzwischen schon mehrfach begegnet sind. Wir können diese Inhalte daher recht schnell durchgehen. Lesen Sie aber bitte bei Bedarf die entsprechenden Abschnitte in Thaler & Sunstein. Robert Cialdini hat den Einfluss unseres sozialen Umfelds auf unser Verhalten als eine seiner inzwischen sieben Grundprinzipien der Einflussnahme identifiziert (vgl. unser Kapitel dazu). Auch im verbreitetsten Nudge-Akronym EAST (S steht hier für Social) taucht er als zentraler Bestandteil auf (Team, 2014).

Wir sind eher bereit etwas zu tun, wenn andere es auch tun. Vor allem, wenn wir diese anderen mögen, sie uns ähnlich sind oder wir sie als Autoritäten anerkennen. Soziale Normen sind daher für uns Signale, die wir häufig respektieren. Dazu ist es aber wichtig, das siebte Prinzip von Cialdini zu berücksichtigen: Einheit. Wenn die “falsche” Wir-Gruppe (also eine Gruppe, der wir nicht angehören) eine soziale Norm zeigt, reagieren wir vermutlich nicht mit Anpassung, sondern eher mit Reaktanz. Uns liegt dann daran, dieser Norm eben nicht zu entsprechen. Denken Sie an das Tragen von Covid-Masken in den USA zur Zeit der Pandemie. Für manche gesellschaftliche Gruppen wurde die Maske zum Zeichen einer bestimmten politischen Haltung. Man gab sich als Mitglied einer bestimmten Gruppe – oder eben der anderen Gruppe – zu erkennen, wenn man die Maske trug oder eben nicht.

Wenn Sie an die Vorlesung zur Sozialpsychologie zurückdenken, können Sie sich vermutlich an die berühmten Experimente von Solomon Asch (Stichwort Konformität) und Muzafer Sharif (Autokinetischer Effekt) erinnern. Die individuelle Einschätzung bzw. das individuelle Verhalten wird der Gruppennorm angepasst. Das kann einerseits durch den sozialen Druck der Gruppe oder auch durch die Akzeptanz der Information erfolgen, die im Verhalten der anderen Gruppenmitglieder steckt.

Eines meiner Lieblingsexperimente ganz allgemein haben im Jahr 2006 Matthew Salganik, Peter Dodds und Duncan Watts durchgeführt (Salganik et al., 2006). Sie haben Musikmärkte simuliert. Es wurden Internetseiten erzeugt, auf denen man bestimmte Musiktitel herunterladen konnte. Das Ganze wurde neun Mal aufgesetzt; immer mit denselben Stücken. Acht Mal mit der Möglichkeit, die Musikstücke zu bewerten. Die Kontrollbedingung bestand in der Plattform ohne diese Bewertungsmöglichkeit.

Wie haben sich die Download-Zahlen entwickelt? Setzt sich die Qualität der Musik durch?

Es zeigt sich, dass es die aktuelle Popularität der Stücke ist, die die Downloadzahlen treibt. Die Qualität der Musik kann durch die Downloads der Kontrollbedingung ganz gut abgeschätzt werden. Mit Ausnahme der besonders guten oder schlechten Stücke hat die Qualität auf die tatsächlichen Downloads aber keinen Einfluss: “In general, the best songs never do very badly, and the worst songs never do extremely well, but almost any other result is possible.” (Salganik et al., 2006, S. 855)

Thaler & Sunstein verallgemeinern diese Beobachtung: “The popularity of music (and movies, and books) is often a result of this sort of cascade effect.” (Thaler & Sunstein, 2021, S. 74). Das Download-Verhalten wird von der Information beeinflusst, die uns die Recommender-Systeme der Plattform bieten (denken Sie bei Recommender-Systemen z. B. an Amazons Sternesystem). Wir beobachten eine Informationskaskade.

Macy und Kolleg:innen haben ähnliche Versuche im Bereich politischer Ansichten und Einstellungen durchgeführt (Macy et al., 2019). Die Ergebnisse zeigen, dass frühe Urteile der anderen18 Partei die eigenen Urteile beeinflussen; und zwar nach dem vorhersehbaren Reaktanz-orientierten Muster: Zustimmung aus der anderen Partei erzeugt eigene Ablehnung. Ablehnung aus der anderen Partei erzeugt eigene Zustimmung.

Zusammenfassend Thaler & Sunstein: “In many domains people are tempted to think, after the fact, that the success of a musician, actor, author, or politician was inevitable in light of his or her skills and characteristics. Beware of that temptation.” (Thaler & Sunstein, 2021, S. 75) – Wir erinnern uns hier an den Halo-Effekt aus Semester 2, der immer gut zur nachträglichen Rationalisierung und Bildung erklärender Geschichten (Narrative) taugt.

Von Robert Cialdini wissen wir, dass wir soziale Bewährtheit als Gestaltungshebel einsetzen können. Vielleicht neu ist die Beobachtung, dass es nicht nur der Hinweis auf den aktuelle Stand der Dinge – den Status Quo – sein muss. Manchmal reicht es auch, darauf hinzuweisen, dass sich die Dinge gerade in eine bestimmte Richtung entwickeln. So setzen die Hinweise auf aktuelle Trends von Hashtags in Twitter genau auf diesen Effekt.

Wenn wir Cialdinis Einheits-Prinzip berücksichtigen, wird nachvollziehbar, wie sogenannte Identitäts-basierte soziale Einflüsse funktionieren können. So war die Kampagne “Don’t Mess with Texas” zur Reduktion von wildem Müll extrem erfolgreich.

Wir hatten eben schon einen Kaskaden-Effekt bei der Entwicklung von Plattform-vermittelter Popularität. Auch auf gesellschaftlicher Ebene können wir solche Kaskadeneffekte beobachten. Der Ausgangspunkt ist häufig eine bestimmte Form der Unwissenheit – die Unkenntnis des Wissensstandes einer breiteren sozialen Gruppe. Das Märchen “Des Kaisers neue Kleider” basiert auf dieser Idee. Ein Kind weist darauf hin, dass die neuen Gewänder des Kaisers nicht besonders edel, dünn und fein sind, sondern dass der Kaiser nackt ist! Sobald eine ausreichend große Zahl von Gruppenmitgliedern ihre Ansicht, Einschätzung o. ä. mitteilt, kann das zu kaskadierenden Effekten führen; also schnellen gesellschaftlichen Entwicklungen, mit denen so nicht zu rechnen war. Beispiele sind die gleichgeschlechtliche Ehe, #MeToo oder #BlackLivesMatter.

Thaler & Sunstein dazu:

All of these movements were fueled by visible actions, including vigorous social media campaigns, that permitted or encouraged people to reveal long-silenced anger and outrage. People who had shut themselves up, or suffered or grieved or raged in silence, suddenly saw a kind of green light.

Thaler & Sunstein (2021), S. 82

In Saudi-Arabien haben junge Männer unterschätzt, wie positiv ihre Altersgenossen der Berufstätigkeit von Frauen eigentlich gegenüber stehen. Nachdem sie darüber informiert worden sind, hat das zu einer drastischen Zunahme der Arbeitstätigkeit dieser Frauen geführt: “Four months after the intervention, the wives of men in the experiment who had received the information about others’ beliefs were more likely to have applied and interviewed for a job.” (Thaler & Sunstein, 2021, S. 82) – Bemerkenswert!

Aber natürlich funktioniert dieser Mechanismus auch in eine andere, dunklere Richtung. Es lässt sich so die Zunahme der sozialen Akzeptanz von bizarren Ansichten sogenannter White Supremacists in den USA miterklären.

Wenn alle glauben, dass viele andere eine soziale Norm unterstützen, reicht manchmal ein informativer Nudge für große Änderungen aus. Es kann sich eine kaskadierende Dynamik entwickeln. Natürlich können wir durch den Einsatz sozialer Normen die Entscheidungsarchitektur beeinflussen. Das Werkzeug sind die Informationen zum Verhalten – und ggf. der Gruppenzugehörigkeit – anderer.

Ein typisches Beispiel soll genügen: Als das britische BIT die Einwohner von Manchester darauf hinwies, “Nine out of ten taxpayers in Manchester pay on time”, stieg die Zahlungsdisziplin um 5 %.

Soziale Normen werden aktuell sehr häufig eingesetzt. Es ist vermutlich damit zu rechnen, dass der Effekt dadurch abnimmt oder sich ggf. sogar ins Gegenteil verkehren könnte (Reaktanz!). Hier gilt – wie so oft: testen, testen, testen!

Literatur

Haidt, J. (2012). The righteous mind: Why good people are divided by politics and religion. Vintage.
Loewenstein, G. (1999). A visceral account of addiction. In O.-J. S. J Elster (Ed.), Getting hooked: Rationality and addiction (pp. 237–245). Cambridge University Press.
Macy, M., Deri, S., Ruch, A., & Tong, N. (2019). Opinion cascades and the unpredictability of partisan polarization. Science Advances, 5(8), eaax0754.
Salganik, M. J., Dodds, P. S., & Watts, D. J. (2006). Experimental study of inequality and unpredictability in an artificial cultural market. Science, 311(5762), 854–856.
Team, B. I. (2014). EAST. Four Simple Ways to Apply Behavioural Insights. https://www.bi.team/publications/east-four-simple-ways-to-apply-behavioural-insights/
Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2021). Nudge – final edition. Penguin Books.

  1. In den USA gibt es quasi ein Zweiparteiensystem; es ist daher sinnvoll, von der “eigenen” und der “anderen” Partei zu sprechen.↩︎