4.4 Motivation & Missverständnisse

Warum sollten wir überhaupt Entscheidungsverhalten beeinflussen wollen? Warum Nudging? – Die Antwort können wir uns leicht selber geben, wenn wir nur kurz innehalten und überlegen: Gab oder gibt es Situationen, in denen unser Wollen und Sollen nicht Hand in Hand gehen? Natürlich! Wir alle kennen das. Eigentlich wollen wir etwas tun, aber unsere Handlungen sehen dann oft ganz anders aus. Daher verstehen wir sehr gut, wenn sich unsere Essensgäste bedanken, wenn wir vor dem Essen das Knabberzeug vom Tisch entfernen. Wir reduzieren damit ihren Handlungsspielraum – tatsächlich also nicht nur ein Nudge, sondern ein drastischerer Eingriff. Trotzdem sind sie uns dankbar – weil sie eigentlich vor dem Essen gar nicht knabbern wollen! Als Homo Oeconomicus würde Mr. Spock das nie verstehen. Es gilt doch: Je mehr Optionen, desto besser!

In der Wissenschaft spricht man dann von der sog. Lücke zischen Absicht und Handlung – der Intention-Action-Gap. Eigentlich haben wir die Absicht, uns auf eine bestimmte Art zu verhalten, handeln dann aber tatsächlich anders. Zu viel Binge Watching, Fastfood, Alkohol – zu wenig Sport, Lernen, Freundlichkeit unseren Lieben gegenüber.

Diese Lücke ist nur ein Aspekt unseres Verhaltens, der als Argument für Unterstützung taugt. Wir wissen aus den Erkenntnissen vieler Forschungsansätze zu Heuristiken und Verzerrungen, dass unser Verhalten in Entscheidungssituationen nicht nur zufällig von allgemein akzeptierten Standards abweichen, sondern dass sie das auf eine systematische Art und Weise tun.

Das ist ein wichtiger Punkt: Unsere Abweichungen von einem akzeptierten Kriterium sind nicht (nur) zufällig – das sind sie zudem – sondern systematisch! Neben der systematischen Abweichung ist inkonsistentes Verhalten in Entscheidungssituationen ein häufig unterschätztes Problem, das ausführlich im Buch Noise von Kahneman, Sunstein und Sibony besprochen wird (Kahneman et al., 2021).

Diese Eigenschaften unseres Verhaltens sind in den allermeisten Situationen völlig in Ordnung und es ist gut, dass wir sie haben. In manchen Situationen führen sie aber zu Verhaltensweisen, die nicht in unserem ureigenen Interesse sind – as judged by ourselves!

Dazu ein Zitat:

With respect to diet, smoking, and drinking, people’s current choices cannot always be said to be the best means of promoting their own well-being (to put it lightly). Indeed, many smokers, drinkers, and overeaters are willing to pay third parties to help them make better decisions.

Thaler & Sunstein (2021), S. 8

Wir müssen nicht lange überlegen, dass uns wirtschaftliche Akteure einfallen, die von diesen Aspekten unseres Verhaltens profitieren. Kleinkredite für vielleicht unnötige Anschaffungen setzen auf den Present Bias. Abomodelle von Zeitschriften auf den Endowment Effekt bzw. die Verlustaversion usw.

Vor diesem Hintergrund können wir vorab ein paar klassische Missverständnisse formulieren und hoffentlich ausräumen.

Die Annahmen, dass fast alle Menschen fast immer in ihrem besten Interesse entscheiden, ist vor dem Hintergrund der langen Liste kognitiver Verzerrungen vermutlich deutlich zu optimistisch. Wenn dem so wäre, gäbe es zum Beispiel auch keine deutliche Intention-Action-Gap.

Eine weitere Annahme ohne solider Nachweis-Basis ist die, dass die Qualität unserer Entscheidungen steigt, wenn die Einsätze steigen. Allerdings wissen wir ziemlich genau, dass Expertise – nicht nur im Bereich von Entscheidungen – zunimmt, wenn wir Handlungen häufig ausführen. Entscheidungen mit hohen Einsätzen (Kauf von Häusern, Berufswahl, Heirat u. ä.) treffen wir aber nur sehr selten. Es ist daher eher davon auszugehen, dass für solche Fälle die Entscheidungsexpertise vielmehr sinkt.

Menschen treffen eher gute Entscheidungen in vertrauten Bereichen. Entscheidungsexpertise entwickelt sich mit stabilen Strukturen; in Situationen mit schneller, valider Rückmeldung; eher nicht in Bereichen mit wenig Erfahrung mit schlechtem oder seltenem Feedback.

Ein weiteres Missverständnis kennen wir bereits: Es ist die Annahme, dass wir als Entscheidungsarchitekt:innen in der Lage sind, Entscheidungssituationen nicht zu beeinflussen. Aber das ist nicht möglich! Nochmal, weil die Formulierung durch die vielen Negationen etwas holprig ist: Es ist NICHT möglich, NICHT zu beeinflussen. So haben beispielsweise die Reihenfolge, die Menge, die Art der Optionen immer einen Einfluss auf die Auswahl. Es gibt hier keine neutrale Situation.

In manchen Situationen wird Active Choosing – also eine erzwungene Wahlentscheidung – quasi als neutral dargestellt. Zu Beispiel beim Thema Organspende. Aber auch Active Choosing ist nur eine Form der Entscheidungsarchitektur und hat Einfluss auf die Entscheidung. Zum Beispiel in Abhängigkeit des situativen Kontexts: Bin ich in Zeitdruck? Habe ich vor kurzem einen Artikel zum Thema gelesen? Haben meine Freunde dazu gerade eine deutliche Meinung geäußert? Usw. … Die Wahl von Active Choosing schließt andere Strukturen aus – wie beispielsweise die Default-Optionen, Organspender:in zu sein (in Österreich) oder nicht zu sein (in Deutschland).

Zitat Thaler & Sunstein: “[T]he anti-nudge position is a logical impossibility—a literal nonstarter.” (Thaler & Sunstein, 2021, p. S.378)

Manche Menschen reagieren allergisch auf den Begriff “Paternalismus”. Nach ihrem Verständnis verbirgt sich hier immer eine Art Zwang. Es ist ein Wesensmerkmal des libertären Paternalismus, dass ein solcher Zwang eben nicht ausgeübt wird. Wenn wir uns an die Begriffsbestimmung von Nudging erinnern: Es werden keine Optionen ausgeschlossen und keine (starken) wirtschaftlichen Anreize verändert17. Zwang auszuüben wäre eine noch extremere Form, Anreize zu verändern.

Wohlgemerkt: Natürlich ist diese Ausübung von Zwang essenzieller Bestandteil des politischen bzw. juristischen Werkzeugkastens. Rechtliche Vorgaben verlangen deren Durchsetzung – wenn nötig auch mit Zwang. Nudges hingegen nicht!

Literatur

Kahneman, D., Sibony, O., & Sunstein, C. (2021). Noise. HarperCollins.
Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2021). Nudge – final edition. Penguin Books.

  1. Für eine dünne Plastiktüte 2 Cent zu verlangen, gilt damit nicht als finanzieller Anreiz.↩︎