3.7 Kontext & Konsistenz

Mit Kontext, Wiederholung und Belohnung haben wir nun die wichtigsten Attribute von Gewohnheiten eingeführt. Lassen Sie uns etwas tiefer gehen und für die einzelnen Dimensionen ein paar Akzente setzen. In der Unter-Überschrift der Folien sollen die beiden Pluszeichen diese Akzentuierung veranschaulichen.

Für Belohnungen haben wir eben gesehen, dass eine gewisse Variabilität überhaupt nicht problematisch ist. Ganz im Gegenteil ist sie sogar vorteilhaft. Unsicherheit von Belohnungen (im Rahmen) unterstützt ihre Effektivität.

Wie sieht das für den Kontext aus? Welchen Effekt hat Variabilität bzw. Konsistenz bezüglich der Umgebungselemente, innerhalb derer sich eine Gewohnheit ausbildet. Wenn wir uns der Ansicht von Wendy Wood anschließen, ist die Antwort klar und ziemlich eindeutig: Konsistenz von Kontext und Situation ist wichtig und die Vielfalt oder Variabilität von Kontext bei der Entwicklung von Habits beeinträchtigt den Aufbau.

Was ist der Grund für diesen Einfluss? Änderung von Kontext-Reizen schafft Raum zum Nachdenken. Wir erinnern uns an dieses Zitat, das wir auf einer früheren Folien kennen gelernt haben: “When people slow down to think, anything might change”. Und Kontext-Variabilität liefert vielerlei Gründe „to slow down”; wiederum mit der Gefahr, dass sich etwas ändert, dass Gewohnheiten unterbrochen werden.

Dem ist nicht zu widersprechen. Nun kommen wir zu einem ABER. Katy Milkman stimmt Wendy Wood im Prinzip zu; differenziert allerdings die doch recht fundamentale Einschätzung zu Kontext-Stabilität etwas. Sie hat nämlich in Experimenten festgestellt, dass eine gewisse Variabilität bei der Entwicklung von Gewohnheiten gar nicht schlecht ist. Diese führt nämlich dazu, dass die Gewohnheit stabiler gegenüber zukünftigen kontextuellen Störeinflüssen ist. Konkret hat sie das an Mitarbeitern bei Google untersucht, die ein Fitness-Studio besuchen. Die wurden in zwei verschiedene Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe wurde (mit kleinen Geldbeträgen) dafür belohnt, dass sie regelmäßig an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit trainiert hat. Die andere Gruppe wurde für regelmäßiges Training zu einer beliebigen Zeit belohnt. Diese Phase dauerte einen Monat. Die beiden Gruppen wurden über 40 weitere Wochen begleitet.

Die Ergebnisse: Die Gewohnheiten von Gruppe 1 – den stabilen Kontextlern – war robuster (“stickier”) als die der variablen Kontextler. Allerdings nur, wenn es um ihren bestimmten Termin ging. Wenn etwas dazwischen kam, so dass sie diesen Termin nicht einhalten konnten, ging diese Gruppe einfach gar nicht ins Studio. Anders die Variablen: Wenn hier ein unvorhergesehener Termin in die Quere kam, wurde der Studio-Besuch verschoben, aber trotzdem durchgeführt. Die Gewohnheit war zwar nicht ganz so häufig, aber in einem anderen Sinn robuster – resilienter, wenn Sie so wollen (zur Resilienz kommen wir noch). Dazu ein Zitat von Milkman:

Yes, forming stable routines is key to habit formation. But if we want to form the ‘stickiest’ possible habits, we also need to learn how to roll with the punches, so we can be flexible when life throws us a curve ball. Too much rigidity is the enemy of a good habit.

Milkman (2021)

Meine Assoziation dazu ist eine Analogie aus der Statistik. Wenn Sie ein psychologisches Experiment mit einer homogenen Gruppe durchführen (z. B. überwiegend weibliche Studierende der Psychologie im Alter zwischen 18 und 22), wird der untersuchte Effekt womöglich stark sein (durch die geringe Streuung kann sich der Effekt gut zeigen); wenn der Effekt allerdings auf eine heterogenere Population verallgemeinert werden soll, kann es sein, dass er dadurch deutlich kleiner wird. Wäre von vornherein eine heterogene Stichprobe untersucht worden, wäre der Effekt durch die Generalisierung vermutlich nicht – oder zumindest nicht so stark – abgeschwächt worden. Auch hier eine Form der Robustheit durch Variabilität10.

Aber vergessen Sie nicht: Auch Milkman plädiert im Prinzip für Stabilität – nur eben kombiniert mit so viel Variabilität, dass zukünftige Störungen der Gewohnheiten überwunden werden können. Wenn diese Störungen von vornherein nicht zu erwarten sind, gäbe es auch keinen Grund für Variabilität.

Was sind nun Beispiele für Elemente des Kontextes, die uns als Cues für Gewohnheiten dienen können?

  • Natürlich der Ort einer Gewohnheit. Wenn abzusehen ist, dass Sie diesen nicht stabil halten werden können, planen Sie die Variabilität von vornherein ein – siehe oben!
  • Die Zeit der Aktivität. Untersucht wurde das zum Beispiel in einer Studie zur Einnahme von Medikamenten, wo es manchmal äußerst wichtig ist, dass diese regelmäßig zu einer bestimmten Uhrzeit eingenommen werden.
  • Vor allem zu Beginn der Habit-Entwicklung können elektronische Helferlein mächtige Cue-Geber sein. Der Warnton im Auto, der darauf hinweist, dass der Sicherheitsgurt noch nicht angelegt worden ist. Die Bewegungsapp, die auf die zu geringe Schrittzahl an diesem Tag hinweist usw.
  • Eine wichtige Quelle von Cues bilden andere Menschen. Wir alle haben Gewohnheiten, in die wir verfallen, wenn wir mit bestimmten Personen zusammen sind. Unsere Partner:innen liefern laufend Hinweise, die auf unserer Seite bestimmte Handlungen auslösen – und natürlich auch umgekehrt. Die Routinen am Frühstückstisch können sich unter diesem Blickwinkel als Abfolge von Gewohnheiten interpretieren lassen. Viele Aktionen unserer Gegenüber sind Cues für eine bestimmte Aktion unsererseits.
  • Auch unsere eigenen Handlungen können Cues für Gewohnheiten darstellen (Fogg (2019) bezeichnet diese Handlungen als Anker). Denken Sie an die Routinen im Badezimmer. Dieser Prozess kann genutzt werden, um leicht neue Gewohnheiten aufzubauen11. Wir nehmen einfach eine bestehende Gewohnheit und erweitern sie um die neue Verhaltensweise. Das nennt man Piggybacking – also Huckepack nehmen. Wir kommen später noch darauf zurück. Zusammengefasst können wir feststellen, dass einige dieser Cues ganz patente Ansatzpunkte für die Gestaltung von Gewohnheiten bieten.

Abschließend ein Zitat von Wendy Wood zum Thema Kontext-Stabilität:

If you set up your world to be constant, recurring, and unwavering, then cues can be the jet fuel to make your new habits take off with stupendous speed. Our minds can start to develop those context-response shortcuts that automate meeting our goals.

Wood (2019), S. 129

Wir erinnern uns: Das Dopaminsystem zeichnet bei der Habitbildung vor allem für den Belohnungsaspekt verantwortlich. Es hat aber noch einen weiteren wichtigen Zweck: Auf der Grundlage früherer Belohnungserfahrungen lenkt Dopamin unsere Aufmerksamkeit auf Cues unserer Umgebung. Wir werden also eher auf die Elemente unseres Kontexts aufmerksam, die früher einmal belohnt wurden. Der Fachbegriff, der diesen Mechanismus zusammenfasst, lautet Value-Driven Attentional Capture.

Wenn ein Cue in der Vergangenheit zu einer Belohnung geführt hat, zieht er in Zukunft die Aufmerksamkeit auf sich. Deshalb ist die initiale Belohnung beim Aufbau von Gewohnheiten so wichtig.

Unser Aufmerksamkeitssystem hat eine Filterfunktion (selektive Aufmerksamkeit), die die relevantesten Inhalte unserer Umgebung (manchmal auch unseres Inneren, wenn Sie sich beispielsweise auf ihre Magenschmerzen konzentrieren) hervorheben. In dem Sinne ist Aufmerksamkeit werteorientiert. In Abhängigkeit von unterschiedlichen Situationen lernen wir, dass unterschiedliche Elemente werthaltig sein können. Derselbe Cue kann in der einen Situation die Ursache für negative und in einer anderen Situation die Ursache für positive Konsequenzen sein. Kurz: Wertorientierte Aufmerksamkeit ist kontextspezifisch. Unterschiedliche Kontexte rufen unterschiedliche Werteprioritäten hervor.

Anderson et al. (2011) haben dazu hochinteressante Versuche durchgeführt. Die Tätigkeiten sind zwar sehr elementar und daher sicher nicht ohne weiteres auf komplexere Alltagskonstellationen übertragbar. Die grundlegenden Mechanismen zur Erklärung spielen aber sicherlich auch da eine große Rolle.

Die VPs haben eine Gewohnheit entwickelt, bei einem simplen Computerspiel rote unter andersfarbigen Kreisen zu finden.

Beim nächsten Durchgang bestand die Aufgabe darin, Dreiecke innerhalb anderer Formen zu finden. Die roten Kreise – früher die Quelle der Belohnung – waren nun eine Ablenkung. Sie zogen noch immer die Aufmerksamkeit auf sich, obwohl sie nun keine Funktion (als Belohnungs-Lieferant) mehr hatten.

Als Hauptautor dieser Studie hat Anderson (2015) den Versuch in einer weiteren Studie modifiziert. Nun wurden die Durchgänge vor unterschiedlichen Hintergrundbildern durchgeführt. Beispielsweise vor dem Hintergrund eines Stadtpanoramas oder einer Waldlandschaft.

Hier zeigte sich nun etwas sehr Interessantes: Farbe und Form der Cues wirkten nur in Kombination mit dem assoziiertem Kontext als ablenkend. Wenn der Kontext ein anderer war, wirkten die als Belohnungsreiz gelernten roten Kreise nicht mehr ablenkend. Unser Belohnungsgedächtnis und unser Aufmerksamkeitssystem sind damit zu einer sehr differenzierten Leistung in der Lage.

Dazu drei Zitate aus unserer Basisliteratur (die Hervorhebungen stammen von mir):

The red circles were distracting only when the background was a city. Thus the cue, red or green, captured attention only in the setting in which it had been associated with rewards in the past. In the other setting, the color hadn’t been rewarded and so did not capture attention. The rigidity of habitual responding is offset, it seems, by its specificity. It adaptively orients us toward the particular cues that, in a given setting, maximize our chances of getting a reward. (…) Cues and contexts are paired in our minds in a sort of habit-inspired caricature of the real world in which we live.

The results show that the same stimulus feature either does or does not capture attention, depending on whether it has been rewarded specifically in the context within which it appears.

When we have been rewarded repeatedly for using particular objects in our environment, they automatically capture our attention.

Wood (2019), S. 138-139

Zum Thema konsistenter Kontext noch ein paar Anmerkungen, die sich vor allem auf neue Gewohnheiten beziehen.

Piggybacking haben wir eben schon kennen gelernt. Es wird manchmal auch als Habit Stacking bezeichnet. Hier wird bestehendes Verhalten zum Cue für neues Verhalten. Das Beispiel Flossing (also die Anwendung von Zahnseide – wir haben dafür im Deutschen kein Verb, das mir dazu einfällt) macht es deutlich. In einer kleinen Studie sollten zwei Gruppen eine Flossing-Gewohnheit entwickeln. Die Personen in der einen Gruppe hat sich erst die Zähne geputzt und dann die Zahnseide angewendet. In der zweiten Gruppe war die Reihenfolge umgekehrt.

Was war das Ergebnis? Die Gruppe „erst putzen, dann flossen” hat die neue Gewohnheit erfolgreicher entwickelt. Nach acht Monaten war sie bei ca. 1/3 noch vorhanden. In der Gruppe „erst flossen, dann putzen” waren es nicht mal halb so viele Personen, die das Verhalten als Habit entwickelt haben. Warum? Die Antwort ist natürlich: Piggybacking. Für die erste Gruppe konnte das neue Verhalten an bestehenden Gewohnheiten andocken – auf ihnen aufbauen. Eine gewohnheitsmäßige Automatisierung ist schon vorhanden; es wird nun nur ein Schritt mehr angehängt. In der anderen Gruppe musste die Gewohnheit völlig ohne Basis entwickelt werden. Piggybacking existiert auch als Marketing-Strategie. Das ist nicht wirklich unser Thema; ich möchte Sie aber darauf hinweisen. Bei Interesse finden Sie im dem Buch von Wendy Wood weitere Informationen und Verweise.

Ein etwas komplexerer Ansatz ist das Swapping. Hier wird eine Gewohnheit durch eine andere ersetzt. Es würde zu weit führen, auf die einzelnen Aspekte erfolgreicher Habit-Ersetzung einzugehen. Wir beobachten, dass das vor allem dann klappt, wenn die Gewohnheiten in wichtigen Aspekten übereinstimmen. Manchmal lassen sich diese wichtigen Aspekte aber leider erst nachträglich ermitteln. Manchmal kann man das aber auch – beispielsweise vor Produkteinführungen – über Vortests ermitteln.

So lässt sich festhalten, dass die Einführung von Sojamilch als (gewohnheitsmäßiger) Ersatz von Milch ganz gut klappt, der Ersatz von Fleisch- durch Tofuprodukte aber weniger gut funktioniert hat.

Ein Verweis auf das Dopaminsystem hilft unserem Verständnis auf die Sprünge:

When we swap, we have to remember the reward principles from chapter 8. If a new option is noted to be a marked downgrade, dopamine neurons decrease in activity, signaling to avoid that action in the future.

Wood (2019), S. 144

Wir sollten also tunlichst vermeiden, dass ein Aspekt der neuen Gewohnheit als deutlich negativ überraschend wahrnehmbar ist (wie vielleicht die eher labbrige Geschmacksarmut von „Tofu Natur”…)!

Literatur

Anderson, B. A. (2015). Value-driven attentional priority is context specific. Psychonomic Bulletin & Review, 22(3), 750–756. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4362886/
Anderson, B. A., Laurent, P. A., & Yantis, S. (2011). Value-driven attentional capture. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108(25), 10367–10371. https://www.pnas.org/doi/pdf/10.1073/pnas.1104047108
Fogg, B. J. (2019). Tiny habits: The small changes that change everything. Eamon Dolan Books.
Milkman, K. (2021). How to change: The science of getting from where you are to where you want to be. Penguin.
Wood, W. (2019). Good habits, bad habits: The science of making positive changes that stick. Pan Macmillan.

  1. Wenn Sie diese Robustheit durch Variabilität mal als Konzept abgespeichert haben, fällt Sie Ihnen andauernd auf. Ob es um Erbgut, Gesellschaften, Fitness-Training, Gruppenleistungen geht. Sehr häufig beobachten wir Vorteile durch Unterschiedlichkeit.↩︎

  2. Beispielsweise macht BJ Fogg nach jedem Besuch der Toilette zumindest zwei Liegestütz.↩︎