3.9 Habit Discontinuity

Der nächste Abschnitt vertieft zwei unserer ursprünglich drei zentralen Gewohnheits-Aspekte: nämlich den Kontext und die Wiederholung. Wiederholung eigentlich nur indirekt – es geht darum, dass Kontexteinflüsse Habits ausbremsen – dass also Wiederholungen der Handlung aufgrund äußerer Einflüsse nicht stattfinden können.

Im Winter 2014 ist für viele Nutzer:innen der Londoner U-Bahn genau das passiert (etwas weiter oben haben wir das Beispiel schon mal kurz erwähnt). Durch einen Streik waren 171 der 270 Stationen dicht. Wir haben es hier also mit einem natürlichen Habit-Experiment zu tun. Die Intervention besteht in der Schließung von U-Bahn-Stationen. Wie reagieren die Menschen darauf? Sie müssen nun neue Wege finden, morgens in die Arbeit zukommen. Jedenfalls müssen sie ihre allmorgendlichen Pendler-Routinen irgendwie ersetzen.

Da die meisten Nutzer:innen ein Pendler-Ticket besitzen, konnten deren Verhaltensweisen recht gut nachvollzogen werden. Die Ergebnisse waren spannend: nur bei 6 % der Pendler kam es zu einer Erhöhung der Fahrtzeit; bei manchen war die Fahrtzeit sogar kürzer.

Wir beobachten hier eine typische Folge von Habit Discontinuity, also der Unterbrechung von Gewohnheiten durch Änderungen des Kontexts. Durch diese ausbremsenden Kontexteinflüsse waren die Menschen gezwungen, nach anderen Optionen zu suchen. Das hätten sie ansonsten nicht getan. Damit hätten sie auch nie Optionen entdeckt, die möglicherweise weniger Zeit oder Stress für sie bedeutet hätten. Ihre Gewohnheiten hätten ihnen die Sicht darauf versperrt.

Das ist nicht ungewöhnlich: Habit Discontinuity hat häufig sowohl positive als auch negative Folgen. Wir erinnern uns auch hier an unser Zitat, dem wir nun schon zum dritten Mal begegnen: “When people slow down to think, anything might change”.

Es muss nicht immer die U-Bahn bestreikt werden, damit unsere Gewohnheiten durch externe Einflüsse gestört werden. Es gibt hier viel alltäglichere und damit auch häufigere Ursachen. Zum Beispiel: In den USA treten Arbeitnehmer:innen recht regelmäßig eine neue Arbeitsstelle an – im Schnitt alle vier Jahre (in Deutschland liegt der Wert mit etwa 10 Jahren deutlich höher). Ein neuer Arbeitsplatz bricht natürlich eine ganze Menge von Gewohnheiten – nicht nur den Weg zur Arbeit. Umzüge haben einen ähnlich breiten Effekt. Auch private Lebensereignisse wie eine Heirat oder die Geburt eines Kindes können Gewohnheiten unterbrechen. Wir müssen uns klar machen, wie breit dieser Einfluss sein kann: Ein großer Teil unserer 43 % Gewohnheits-basierten Tätigkeiten steht mit einem Mal zur Disposition und wird quasi neu verhandelt und organisiert.

Katy Milkman macht aus der Not eine Tugend und die Habit Discontinuity zum Werkzeug für Verhaltensänderung: Fresh Start Effect. Ein weiterer, neuer Aspekt dieses Werkzeug-Blickwinkels ist, dass wir keine großen Lebensereignisse – oder auch nur Neujahr – brauchen, um neu zu beginnen. Manchmal tut es auch schon eine Nummer kleiner: Start des Semesters, Start der neuen Woche, „wenn nach den Weihnachtsferien die Vorlesungszeit beginnt”. Manchmal sind solche Ereignisse auch nur für uns selbst bedeutsam. Wichtig ist, dass wir dem neuen Beginn eine besondere Bedeutung zuschreiben und diese dann für unsere Zwecke nutzen: nämlich eine neue Gewohnheit zu starten.

Milkman und Kolleg:innen haben zu diesem Thema Studien durchgeführt und festgestellt, dass zeitliche Landmarken – wie eben beispielsweise Neujahr – Gewohnheiten ausbremsen und so Gelegenheit für Reflexion und Neuformulierung von Verhaltenszielen bieten können. Wir kennen das Phänomen der mentalen Buchführung. Über solche temporalen Marken wird ein Konto abgeschlossen und ein neues eröffnet.

Selbst wenn die guten Vorsätze zum neuen Jahr keinen sehr guten Ruf genießen – sie funktionieren erstaunlich gut! Etwa 20 % dieser Vorsätze werden umgesetzt. Das ist eine erstaunlich hohe Zahl. Höher als an sonstigen Tagen des Jahres ohne besondere Bedeutung für unsere mentalen Konten. Aber es muss nicht immer Neujahr sein, wie wir inzwischen wissen. Auch der Start einer Woche oder eines Monats kann zu einem Fresh Start herhalten!

Gewohnheiten haben viele Vorteile – insbesondere, wenn wir Dinge tun, die uns zugutekommen – wie sportliche Aktivitäten oder gesundes Essen. Gewohnheiten führen aber auch dazu, dass wir positiven Dingen, denen wir regelmäßig begegnen – die Bestandteil unserer Gewohnheiten werden, mit abgeschwächten Empfindungen begegnen. Wir habituieren. Vor allem, wenn es um den Umgang mit unseren Liebsten geht, ist das natürlich nicht sehr positiv! Wir beobachten hier ein Phänomen, das Félix Ravaisson als „Double Law of Habit” bezeichnet (Mathilde Tahar, 2022); einerseits eine Stärkung der Gewohnheit, andererseits eine reduzierte emotionale Reaktion. Hier können Habit Discontinuities helfen, indem sie Raum für neue Erlebnisse und Erfahrungen sammeln.

Zwei Anmerkungen von Wendy Wood zum Thema Habit Discontinuities:

Discontinuity removes old patterns in our lives and, by making us think, resynchronizes our habits with our goals and plans. (…) In new contexts, we choose behaviors that fit our current goals.

When we most want change, discontinuity is a friend.

Wood (2019), S. 166 + 173

Wenn wir also merken, dass unsere Gewohnheiten und unsere Ziele sich auseinanderbewegen, sollten wir an das Werkzeug Habit Discontinuity denken und vielleicht auch einen neuen Start ins Auge fassen.

Sam Hui und Kolleg:innen haben 2013 eine Studie zum Einkaufsverhalten durchgeführt (Hui et al., 2013). Wir sind nicht überrascht, dass unsere Gewohnheiten auch beim regelmäßigen Einkauf im Supermarkt unserer Wahl eine große Rolle spielen. Diese Gewohnheiten haben aus Sicht des Supermarktbetreibers aber noch Luft nach oben. Beim üblichen und typischen wöchentlichen Einkauf decken wir etwa 37 % des Verkaufsraums ab. Das ist nicht überraschend: Wir haben unsere Wege im Laufe der Zeit optimiert. Wie reagieren wir aber, wenn die Regale umstrukturiert werden? Es zeigt sich, dass hier auch kleine Änderungen zu einer deutlichen Habit Discontinuity führen können – und damit auch unsere Ausgaben beeinflussen. Wir nehmen nun Produkte wahr, die vorher in den anderen 63 % des Verkaufsraums lagen. Die ungeplanten Ausgaben stiegen in der Studie entsprechend um 7 %.

Wenn Firmen neue Produkte einführen wollen, müssen sie sich bewusst sein, dass sie nicht nur gegen eine Liste von Attributen der alten Produkte (Preis, Verbrauch, Haltbarkeit, …) antreten, sondern gegen eine Reihe von Gewohnheiten, die in Zusammenhang mit diesen alten Produkten steht. Neue Produkte erzeugen Disruption, wenn wir unser Verhalten ändern müssen, um sie zu verwenden.

Dazu ein Beispiel: Obwohl viele Industriegrößen vom Segway begeistert waren, als sie das Konzept zum ersten Mal sahen – Steve Jobs hat vorausgesagt, dass die Städte der Zukunft für den Segway umgestaltet werden würden – hat sich das Produkt als Verkehrsmittel nicht durchsetzen können. Es standen ihm zu viele Gewohnheiten im Wege. Hier ist eine sog. disruptive Innovation gescheitert. Hingegen haben es Elektro-Scooter über die evolutionäre Weiterentwicklung eines bestehenden Produkts geschafft, einen Multimilliarden-Markt zu erzeugen.

Das Zitat von Wood weist uns darauf hin, dass man bei der Einführung völlig neuartiger Produkte zwar versucht, Gewohnheiten zu brechen, häufig aber an der Mächtigkeit unserer berühmten 43 % scheitert:

But research has shown that consumers have less favorable intentions to purchase really new products, and when they do say they will purchase them, they are less likely to follow through. We just don’t know what really new products will do for us, and this uncertainty makes us think and rethink our intentions to buy. As a result, we act in unpredictable ways.

Wood (2019), S. 169

Noch ein paar wenige Sätze zu Habit Discontinuities. Wie wir uns vielleicht vorstellen können, beeinflusst das Wetter unser Wahlverhalten. Wenn es regnet, gehen weniger Menschen zum Wählen. Das wurde von Thomas Fujiwara und Kolleg:innen herausgefunden, die die entsprechenden Daten der Jahre 1952 bis 2012 untersucht haben. Bereits ein Millimeter Regen reduziert die Wahrscheinlichkeit, wählen zu gehen, um 0,05%. Besonders interessant unter dem Blickwinkel der Unterbrechung von Gewohnheiten ist es, dass diese Störung im einen Jahr noch deutliche Folgen für das folgende Jahr hat. Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit, wählen zu gehen, noch verringert.

Zum wiederholten Male beobachten wir auch hier den großen Einfluss kleiner Dinge – hier kleiner Störungen. Beim Thema Nudging gehen diese Einflüsse dann meist in eine positive Richtung.

Ein letztes Beispiel: Um die Steuerdisziplin seiner Bürger:innen zu erhöhen, hat Montevideo eine Lotterie durchgeführt. Hier wurde ein Preis unter all jenen ausgelobt, die ihre Steuerschuld für ein Jahr korrekt beglichen haben. Der Preis bestand darin, dass sie im folgenden Jahr keine Steuern zahlen mussten. Dieser Preis ging aber nach hinten los: Die Unterbrechung von vermutlich bestehenden Gewohnheiten hat dazu geführt, dass die Steuerdisziplin der Sieger:innen in den weiteren Jahren abnahm.

Fassen wir den Abschnitt Habit Discontinuities ganz kurz zusammen: Unterbrechungen von Gewohnheiten bringen uns zum Nachdenken. Dadurch bedrohen sie möglicherweise gute Habits. Allerdings sind sie auch eine Chance, schlechte Gewohnheiten abzulegen oder über den Fresh Start Effekt neue, positive Habits zu aufzubauen.

Literatur

Hui, S. K., Inman, J. J., Huang, Y., & Suher, J. (2013). The effect of in-store travel distance on unplanned spending: Applications to mobile promotion strategies. Journal of Marketing, 77(2), 1–16. https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1509/jm.11.0436
Mathilde Tahar, U. T. J.-J. (2022). Review: Being inclined: Félix ravaissonś philosophy of habit. Zugriff am 11.08.2022. https://ndpr.nd.edu/reviews/being-inclined-felix-ravaissons-philosophy-of-habit/#:~:text=In%20Ravaisson%2C%20habit%20is%20a,will%2C%20of%20world%20and%20mind
Wood, W. (2019). Good habits, bad habits: The science of making positive changes that stick. Pan Macmillan.