3.10 Stress, Resilienz

Wir können unsere Handlungen entlang eines Kontinuums anordnen, bei dem an einem Pol hochreflektierte Aktionen und am anderen Pol Gewohnheiten zu finden sind7. Eben haben wir gesehen, wie Unterbrechungen von Gewohnheiten durch störende Kontexteinflüsse – sog. Habit Discontinuities – der Aktivität ihren Automatismus nimmt und sie in Richtung Reflexion bewegt.

Das Thema dieses Abschnitts sind gegenläufige Einflüsse auf Verhaltensweisen, die zumindest anteilig Gewohnheitskomponenten aufweisen bzw. durch diese ersetzt werden können. Die Einflüsse, um die es uns geht, sind Stressoren; beispielsweise Zeitdruck, physische Beanspruchung oder Arbeitsbelastung. Stress stört unsere bewussten exekutiven Funktionen; er verschiebt Aktivitäten weg von der Reflexion – dem Ressourcen-verbrauchen Ende des Kontinuums – in die Richtung der Automatismen und der Gewohnheiten.

Bereits 1991 hat James March betriebliche Entscheidungen untersucht und dabei festgestellt, dass Entscheider, die unter hohem, angsterzeugendem Druck gestanden haben, weniger geneigt waren, strategische Risiken einzugehen (March, 1991). Wir sind diesem Verhalten auch schon in Verbindung mit der Prospect Theory begegnet. Von der wissen wir, dass es besonders dann auftaucht, wenn wir uns auf der positiven Gewinn-Seite unseres Referenzpunkts wähnen und diese Position nun aufs Spiel setzen würden. Diese gestressten Firmenentscheider haben es vermieden, Wachstum durch Innovationen zu erzielen – auf Englisch to explore –, sondern eher auf das Gegenstück gesetzt: weiterhin das zu tun, was die Firma bisher erfolgreich gemacht hat – to exploit.

Die Stressoren erzeugen bei den Entscheidern eine Art Tunnelblick. Statt ressourcenintensiver Abwägung potenziell erfolgreicher aber riskanter Strategien neigt sich die Waagschale hin zu Gewohnheiten, zu Handlungen und Aktivitäten, die in der Vergangenheit erfolgreich waren; Exploit-over-Explore!

Die Studie von James March war nachvollziehbarer Weise korrelativer und nicht experimenteller Natur. Aber auch in Experimenten konnte ein ähnlicher Effekt von Stressoren auf Entscheidungen nachgewiesen werden. Im Jahr 2011 haben Schwabe & Wolf Studierende dem Stressor niedriger Temperatur ausgesetzt (Schwabe & Wolf, 2011). Studierende mussten Ihre Hände drei Minuten bis zum Handgelenk in Eiswasser tauchen. Zudem wurden sie dabei gefilmt und von einer unbekannten Person beobachtet. Also völlig nachvollziehbar: eine sehr stressige Situation. Eine Kontrollgruppe hat ihre Hände für drei Minuten in körperwarmes Wasser getaucht und wurde nicht beobachtet oder gefilmt.

Beide Gruppen entwickeln anschließend Gewohnheiten in einem simplem Computerspiel, bei dem erfolgreiche Aktionen unmittelbar belohnt wurden. Auch wenn die Belohnung nur in der Gabe von Orangensaft oder Schokoladenmilch bestand, waren die Rahmenbedingungen für den Aufbau von Gewohnheiten gegeben.

Interessant wurde es, als in weiteren Versuchsdurchgängen die Belohnungen entfielen. Die gestresste Experimentalgruppe zeigte weiterhin Verhalten auf Basis der gelernten Gewohnheiten. Die Kontrollgruppe testete relativ bald neue Spielstrategien, um weiterhin eine Belohnung zu bekommen. Auch hier zeigt sich in einem streng kontrollierten experimentellen Laborsetting: Exploit-over-Explore in Stress-Situationen.

Positiv formuliert können wir unsere Gewohnheiten als Resilienzmechanismen – also als Widerstandskraft – betrachten. In Stresssituationen haben wir damit einen Mechanismus, der Handlungen schützt, die früher zu Belohnungen geführt haben. Wendy Wood kommentiert das so:

Your beneficial habits will keep grinding forward, ignoring the drama of the day. Habit then becomes more than the robust fallback system that allows us to keep acting despite the challenges that life throws at us. It’s the desired choice of both of our selves.

Wood (2019), S. 181

Die folgende Anekdote bringt den Einfluss von Stressoren auf Gewohnheiten auf den Punkt. Wood beschreibt die regelmäßigen Fahrradtouren mit ihrer halbprofessionell radelnden Nachbarin. Dabei hat sie beobachtet, dass zum Ende ihrer Trainingstouren die Nachbarin die Geschwindigkeit regelmäßig deutlich erhöht, während sie ansonsten immer im Tempo von Wood gefahren ist. Die Erklärung: Die Nachbarin hat sich fast über die gesamte Tour zusammengenommen und ihr Tempo gedrosselt. Zum Ende hin nahm der mentale Stress der Selbstbeschränkung aber so weit zu, dass sich die Gewohnheit – also das für sie normale höhere Tempo – durchgesetzt hat.

Wendy Wood dazu:

But as our ride progressed, the conscious effort to stay at my pace became too much. Her legs automatically sped up. She was simply too tired mentally to maintain my speed any longer. The irony is that she was now working harder physically, but as a habit, it seemed easier to her.

Wood (2019), S. 182

Wieder mal mit Studierenden als VPs haben Neal und Kolleg:innen Gewohnheiten unter Stressbedingungen untersucht (Neal et al., 2013). Wann sind Studierende besonders gestresst? Natürlich in der heißen Prüfungsphase.

Untersucht wurde das Leseverhalten am Frühstückstisch. Man könnte meinen, dass in dieser Phase des Semesters die Zeit für das morgendliche Zeitungslesen vielleicht geopfert wird, um die knappe Ressource kognitive Anstrengung für das Lesen von Fachliteratur und Skripten zu schonen. Das war aber nicht der Fall: Für Studierende, die halbwegs regelmäßig morgens lesen, war es umso wahrscheinlicher, dass sie in dieser stressigen Jahreszeit an ihren Lesegewohnheiten festhalten. Die Regelmäßigkeit nahm zu.

In einer zweiten Studie wurden Studierende nach vier positiven und vier negativen Gewohnheiten gefragt; nach Dingen, die sie gerne noch häufiger oder lieber nicht mehr so häufig ausführen wollten. Zudem wurden sie gefragt, in welchem Umfang sie diese Aktivitäten jetzt schon ausführen. Sie wurden also nach der Stärke ihrer Gewohnheiten gefragt.

Für vier Tage sollten sie Buch führen, wie häufig sie diese Gewohnheiten ausgeführt haben. Dabei sollten sie an zwei dieser vier Tage viele alltägliche Aktivitäten (Maus bedienen, Türe öffnen, …) mit der nichtdominanten Hand durchführen. Das sollte eine besondere Art Stress für diese Tage erzeugen. Es zeigte sich, dass diese Manipulation erfolgreich verlief. Unter Stress-Bedingung haben die VPs berichtet, dass die starken Gewohnheiten – gute wie schlechte – besonders häufig durchgeführt worden sind; verglichen mit den zwei Tagen ohne zusätzlichen Stress durch die nicht-dominante Hand.

Das Ergebnis zusammengefasst: “Students who were tired from continuous efforts to use their nondominant hand were plagued by bad habits but also benefited from good ones. Mental tiredness, much like stress, boosted habit performance, reflecting the limited capacity of conscious thought and the hardiness of automaticity.”

Wenn Stress auf eine ohnehin leichte Ablenkbarkeit trifft, haben wir eine sehr problematische Kombination. Wenn Sie wollen, können Sie über den angegebenen Link selbst prüfen, wie es um Ihre individuelle Ablenkbarkeit bestellt ist. Entsprechende Studien zeigen, dass Fehlhandlungen, die wir gern auf situative Zerstreutheit zurückführen, wenn sie uns passieren, bei leicht Ablenkbaren häufiger auftreten (wir sehen hier wieder mal den fundamentalen Attributionsfehler am Werk).

Es gibt viele Bereiche des Berufslebens, bei denen wir hoffen, dass in Stresssituationen nicht unser Habit-Selbst die Regie übernimmt. Besonders problematisch kann das im medizinischen Bereich sein. Das Phänomen der abgelenkten Doktor:innen – auf Englisch Distracted Doctoring – ist schon fast sprichwörtlich; es gibt sogar ein Fachbuch gleichen Titels. In einer Studie mit medizintechnischen Assistent:innen (MTAs) berichtet etwa die Hälfte, dass sie telefoniert habe, während sie bei einer Operation die Bypass-Maschine überwachen sollte. Für das Schreiben von Kurznachrichten wurden ähnliche Zahlen ermittelt. Und das, obwohl 78 % der Befragten derartiges Verhalten als gefährlich einschätzen.

Warum wird der eben als Stress-resilient beschriebene Habit-Mechanismus hier auf einmal als negativ bewertet? Das liegt an der Anforderung der Situation! Hier können besondere Ereignisse stattfinden, in denen Gewohnheiten nicht angebracht sind.

Wir sind hier nicht überrascht, weil wir die Rolle kennen, die die begrenzten kognitiven Aufmerksamkeitsressourcen bei unserer Informationsverarbeitung spielen; Stichwort selektive Aufmerksamkeit: Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten – ein Smartphone, die Maske zur Eingabe der Anamnesedaten – entziehen wir sie anderen Dingen. Das ist zwangsläufig der Fall. Für das parallel geführte Gespräch mit Patient:innen heißt das, es erfolgt tendenziell etwas mehr auf Autopilot. Die Fähigkeit, beispielsweise bestimmte besondere Details im Gespräch herauszuhören, verringert sich. Unsere Gewohnheiten übernehmen und arbeiten nach Schema-F. Habits sind hier oft nicht sonderlich effektiv und der Situation angemessen, aber sie sind robust; aber genau das kann bei kritischen und komplexen Entscheidungen problematisch werden.

Der Transfer auf andere berufliche Bereiche liegt nahe. Denken Sie an die gestresste Managerin oder den abgelenkten LKW-Fahrer.

Dieses klassische Zusammenspiel zwischen Reflexion und Automatismus – System eins und zwei – das unter Stress in Richtung Gewohnheiten neigt, kommentiert Wendy Wood wie folgt:

Our capacity to make conscious decisions, it turns out, is far from robust. It deteriorates under stress, it wanes when we are mentally tired, and it gets derailed by social media distractions and our own absentmindedness. (…) Given decision-making strained by stress, tiredness, distraction, or lack of ability, the balance in our lives tips toward habits. Additional reason to establish good habits so that the habitual choice is the right choice.

Wood (2019), S. 187


Literatur

Hammond, K. R. (2000). The cognitive continuum theory of judgment. Judgments Under Stress, 83–109.
March, J. G. (1991). Exploration and exploitation in organizational learning. Organization Science, 2(1), 71–87.
Neal, D. T., Wood, W., & Drolet, A. (2013). How do people adhere to goals when willpower is low? The profits (and pitfalls) of strong habits. Journal of Personality and Social Psychology, 104(6), 959.
Schwabe, L., & Wolf, O. T. (2011). Stress increases behavioral resistance to extinction. Psychoneuroendocrinology, 36(9), 1287–1293. https://www.psy.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/kognitionspsychologie/publikationen/schwabe2011c-pnec.pdf
Wood, W. (2019). Good habits, bad habits: The science of making positive changes that stick. Pan Macmillan.

  1. Eine theoretische Ausarbeitung dieses Themas finden Sie bei Kenneth Hammonds Cognitive Continuum Theory (Hammond, 2000).↩︎