3.2 Habitual Mind

Wenn Sie die Unterscheidung in System 1 und 2 kennen, die Daniel Kahneman in seinem populären Alterswerk populär gemacht hat (Kahneman, 2011), werden Sie nicht überrascht sein, dass es neben den bewusstseinsfähigen Einflüssen exekutiver Kontrolle (Planen, Einstellung, Willenskraft) auch verborgene Einflüsse gibt, die zu beharrlichem Verhalten führen.

Der Hauptunterschied zwischen System-1- und System-2-Prozessen liegt im Bedarf von Aufmerksamkeitsressourcen. Kurz: die einen sind anstrengend, die anderen nicht. Die kognitiven Prozesse, die Wendy Wood als “Habitual Mind” bezeichnet, sind eindeutig letzteren zuzuordnen. Für unsere Gewohnheiten müssen wir uns nicht anstrengen. Sie laufen automatisch ab; schon fast ohne unser Zutun. Dadurch sind sie natürlich effizient – es müssen ja keine Ressourcen aufgewendet werden. Wenn die Umgebung uns gewisse situative Umstände bietet, spielen wir das gewohnte Programm ab. Aber Achtung: Das gilt für gute genauso wie für schlechte Gewohnheiten.

3.2.1 Methode & Ergebnis

Wie groß ist der Anteil von Habits an allen unseren Aktivitäten?

Offensichtlich müssen wir unterscheiden, um welche Art von Verhalten es sich handelt. Bestimmte Aktivitäten können nicht zu Gewohnheiten werden, da wir sie vielleicht nur einmal ausführen; beispielsweise die Anmeldung bei einem Fitnessstudio. Diese Handlungen sind es auch, für die bewusste, exekutive Aspekte eine sehr wichtige Rolle spielen. Hier kann sich der einmalige Einsatz von Absichten, Anstrengung, Willenskraft, … auszahlen. Es sind die sich wiederholenden Tätigkeiten, für die Absichten keine große Rolle spielen.

Um den Anteil von Gewohnheiten an unseren alltäglichen Aktivitäten zu ermitteln, setzen Wood und Kolleg:innen die Methode des Experience Sampling3 ein:

After a lot of starts and stops, I heard of a research technique called experience sampling, in which participants report on what they are doing as they are doing it. It was a novel way to collect data. The in-the-moment quality of this approach suggested that it could capture the experience of acting out of habit, assuming that such a thing really did exist.

Wood (2019), S. 20 (die Hervorhebungen sind meine)

Die Versuchspersonen geben zu zufällig ausgewählten Zeitpunkten an, was sie gerade denken und tun. Mit Smartphones ist das Experience Sampling inzwischen recht einfach umsetzbar. Es gibt auch schon entsprechende Apps zur Datenerhebung, die frei verfügbar sind.

Wenn sich zu einem bestimmten Zeitpunkt Gedanken und Handlungen unterschieden und die Handlung häufig unter den gleichen situativen Bedingungen erfolgte, wurde das als Hinweis auf gewohnheitsmäßige Aktivitäten gewertet.

Das Ergebnis ist beeindruckend und ging kurz nach Veröffentlichung auch durch die populäre Presse: 43 Prozent der Dinge, die wir tun, beruhen auf Gewohnheiten.

Eine weitere differenzierte Aufdröselung nach Geschlecht, Persönlichkeitseigenschaften, Alter usw. ergab keine Unterschiede. Immer wieder tauchten diese scheinbar universellen 43 Prozent auf.

Eine interessante Erkenntnis am Rande: Die meisten unserer Unterhaltungen haben habituelle Züge. Sie erfordern häufig keine große Aufmerksamkeit oder Anstrengung. Das wurde auch schon von Kahneman festgestellt, als er bei pupillometrischen Untersuchungen keine Erweiterung während Unterhaltungen beobachten konnte (Kahneman, 1973).

3.2.2 Habits und die Wissenschaft

Bevor wir uns daran machen, Gewohnheiten begrifflich festzuzurren, wollen wir uns ansehen, wie die Wissenschaft damit umgegangen ist.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hat der Behaviorismus die wissenschaftliche Psychologie geprägt. Demnach waren top-down Einflüsse auf menschliches Verhalten (also vieles von dem, was wir heute als Kognition zusammenfassen) uninteressant, wurden sogar als fiktional angesehen, und wurden daher nicht weiter betrachtet. Als entscheidend wurden bottom-up Einflüsse angesehen, also externe, objektiv beschreibbare Reize, die zu bestimmtem Verhalten führen. Die Basiseinheit der Studien zum Behaviorismus war diese Reiz-Reaktions-Verbindung. Der Teil zwischen Reiz und Reaktion war von untergeordnetem Interesse; es war eine Black Box.

Diese Black Box wurde im Zuge der kognitiven Wende (ca. ab den 1960ern) in der Psychologie geöffnet. Konzepte der Kognitionspsychologie – Einstellung, Motivation, Emotion, Volition, Aufmerksamkeit, … – rücken in den Fokus.

Ein paar Schlaglichter auf die zwei Sichten:

  • Nach den etablierte Annahmen der klassischen Kognitionsforschung erfolgte eine Änderung des Verhaltens über eine Änderung der Einstellung. Behavioristen bezeichnen das als Explanatory Fiction – also als eine Art Pseudo-Erklärung.

  • Wie wir noch sehen werden, spielen Belohnungen eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Gewohnheiten, aber eine umso geringere, je länger die Gewohnheit währt. Das passt einerseits sehr gut und andererseits gar nicht zu den Kernannahmen des Behaviorismus.

  • Gewohnheiten als Untersuchungsgegenstand war für die klassischen Kognitivisten ein zu simples Konzept, das scheinbar zu nahe an den einfachen Reiz-Reaktions-Konzepten des Behaviorismus lag.

Nach Woods konzentrierte sich die klassische Kognitionsforschung etwas zu ausschließlich auf die top-down Einflüsse auf Kosten der Einflüsse von Kontext und Umwelt auf unser Verhalten. Aktuell sieht sie ein Zusammenwachsen dieser Perspektiven. Und es ist diese neue Sichtweise, die das Interesse für Gewohnheiten wiederbelebt, nachdem schon William James 1890 – also vor den Behavioristen – sich des Themas angenommen hat.

Die Forschung zu Gewohnheiten verlangt beides: Die Perspektive auf Kontexteinflüsse auf Verhalten plus die Sicht auf die beteiligten kognitiven Mechanismen. Es ist ein synergetischer Ansatz nötig

3.2.3 Was sind Habits?

Unsere Gewohnheiten operieren standardmäßig außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung. Unsere Selbstwahrnehmung lautet: Wir handeln, weil wir wollen. Diese Wahrnehmung liegt häufig daneben! Wir überschätzen die Rolle, die unsere Absichten, Gedanken etc. in Bezug auf unsere Handlungen spielen. Diese Überschätzung ist so zentral, dass sie eine eigene Bezeichnung verdient: Introspection Illusion.

Die Introspection Illusion wurde in verschiedenen Studien auch experimentell nachgewiesen. Versuchspersonen erklären ihre Wahl zwischen eigentlich identischen Produkten (die sich nur in ihrer Reihenfolge unterschieden haben) mit nicht zutreffenden Produkteigenschaften. Nachgewiesen werden konnte jedoch der Positionseffekt; also ein Einflussfaktor, den niemand der Teilnehmer:innen auf dem Schirm hatte. Richard Thaler bezeichnet diese übersehenen Einflüsse auf unser Entscheidungsverhalten als “supposedly irrelevant factors” (also scheinbar irrelevante Faktoren) oder kurz SIFs (Thaler, 2015).

Viele dieser SIFs sind Eigenschaften des situativen Kontexts einer Entscheidungssituation. Dabei müssen wir breit denken. Diese Elemente können sich auf die soziale Situation, die gerade herrschende Temperatur, die Tageszeit, das gerade eben Erlebte uvwm. – oder eben auch auf unsere Gewohnheiten beziehen.

Der entscheidende Punkt ist: Solange wir glauben, dass unsere Handlungen (oder Entscheidungen) nur von bewussten Prozessen abhängen, lassen wir die Ressource Gewohnheiten brachliegen.

Dazu Wendy Wood:

If our noisy, egotistical consciousness takes all the credit for the actions of our silent habitual self, we’ll never learn how to properly exploit this hidden resource. Habits will be a silent partner, full of potential energy but never asked to perform to their fullest. Our conscious self’s intrusion is keeping us from taking advantage of our habits.

Wood (2019), S. 28

Wir können den Einfluss von Kontexteigenschaften auf Gewohnheiten beobachten, wenn sich der Kontext ändert. Wir werden diesen wichtigen Aspekt von Gewohnheiten später noch unter dem Stichwort Habit Discontinuity besprechen. Dazu nur stichpunktartig drei Beispiele:

  • Als in London wegen eines Streiks einige U-Bahn-Haltestellen geschlossen bleiben, müssen die Fahrgäste neue Strecken finden, die sie teilweise schneller ans Ziel bringen sind als die alten.
  • Beispiel Wahlen: Nach einem Umzug gehen Menschen seltener zum Wählen.
  • Fresh Start Effect (Milkman, 2021): Zeitliche Einschnitte können genutzt werden, um schlechte Gewohnheiten zu beenden (denken Sie an die Vorsätze zum neuen Jahr, die trotz ihres schlechten Rufs besser funktionieren, als zu jedem anderen Tag des Jahres)

Wenn wir kurz Revue passieren lassen, was wir bisher behandelt haben, stellen wir fest: Wir nähern uns der Frage, was wir unter Habits verstehen, indem wir erstmal geklärt haben, was Habits nicht sind. Gewohnheiten sind keine Handlungen auf der Basis von bewussten, intentionalen Gedanken; top-down Einflüsse wie Pläne, Einstellungen oder Willenskraft sind hier weniger relevant als – auch die Wissenschaft – lange vermutet hat. Der Begriff “Habit” ist nicht gleichzusetzen mit “Automatismus” – also die meisten Prozesse, die wir unter dem Begriff “System 1” zusammenfassen. Gewohnheiten sind eine Teilmenge von automatisch ablaufenden Mechanismen. Sie sind System 1 zuzuordnen. Der Aufbau von Gewohnheiten kann allerdings durchaus von solchen top-down Prozessen beeinflusst werden. Das ist für uns der Ansatzpunkt einer ergonomischen Gestaltung (→ Entscheidungsergonomie) von Habits.

Ziele und Belohnungen sind für die initiale Entscheidung wichtig, etwas wiederholt tun zu wollen. Beim Aufbau von Belohnungen haben wir es also erstmal mit dem Intentional und dann erst mit dem Habitual Mind zu tun.

In einem Priming-Experiment mit Läufern können Woods und Kolleg:innen (Neal et al., 2012) beobachten, dass häufige Läufer das Laufen eher mit Orten und seltene Läufer das Laufen eher mit Zielen assoziieren. Auch hier ist also der Übergang von Intentionen zu Gewohnheiten erkennbar.

Unser bisheriges Verständnis möchte ich durch zwei Zitate von Woods zusammenfassen; das zweite liefert eine Arbeitsdefinition von Habits.

When people slow down to think, anything might change. (…) When we act on habit, we are essentially retrieving our practiced answers to previously solved problems.

[Habits are] a mental association between a context cue and a response that develops as we repeat an action in that context for a reward.

Wood (2019), S. 42+43 – die Hervorhebungen sind meine

Wir haben ja einen angewandten Ansatz – wir wollen Entscheidungssituationen gestalten. Welche Vorteile liefern uns hierzu Gewohnheiten?

Drei Beispiele berühmter Männer sollen uns helfen, diese Vorteile zu sehen:

  • Barack Obama wollte während seiner Amtszeit als amerikanischer Präsident keine Entscheidungen dazu treffen, was er aß oder anzog (er trug fast ausschließlich gleichartige dunkle Anzüge mit weißem Hemd), um sich auf die vielen anderen, wichtigeren Entscheidungen konzentrieren zu können
  • Marc Zuckerberg möchte sich auf die Entscheidungen zu Facebook/Meta konzentrieren und die meisten seiner Alltagsentscheidungen los werden: Auch er trägt meist dasslbe – graue T-Shirts)
  • Der schwimmende Rekord-Olympiasieger Michael Phelps hat in sein Training regelmäßig Einheiten eingebaut, in denen er mit Wasser in seiner Schwimmbrille schwamm. Das sollte ihn auf entsprechende – unvorhergesehene – Situationen während des Wettkampfs vorbereiten.

Der Vorteil von Habits hat also etwas mit dem erworbenen Automatismus, den nötigen kognitiven Ressourcen zu tun: Gewohnheiten machen kognitive Ressourcen frei für andere Prozesse (z. B. der Problemlösung). Sie ermöglichen schnelles und robustes Verhalten in kritischen Situationen.

Aufgabe

Lesen Sie den ersten Teil des vierten Kapitels aus Wood (2019); hier finden Sie das PDF. Es geht inhatlich um das Thema Gewohnheiten und Ernährung; vor allem geht es um die Politikintervention 5-a-Day.

Welche Mahlzeit eignet sich besonders für Entscheidungsergonomische Habits-Ansätze? Warum?

Beurteilen Sie den Erfolg der Intervention 5-a-day. Worin liegen die Ursachen?

Literatur

Kahneman, D. (1973). Attention and effort. Citeseer.
Kahneman, D. (2011). Thinking, fast and slow. Farrar, Straus & Giroux.
Milkman, K. (2021). How to change: The science of getting from where you are to where you want to be. Penguin.
Neal, D. T., Wood, W., Labrecque, J. S., & Lally, P. (2012). How do habits guide behavior? Perceived and actual triggers of habits in daily life. Journal of Experimental Social Psychology, 48(2), 492–498. https://dornsife.usc.edu/assets/sites/545/docs/Wendy_Wood_Research_Articles/Habits/neal.wood.labrecque.lally.2012.pdf
Thaler, R. H. (2015). Misbehaving: The making of behavioral economics. WW Norton.
Wood, W. (2019). Good habits, bad habits: The science of making positive changes that stick. Pan Macmillan.

  1. Die Methode wurde von Mihály Csíkszentmihályi entwickelt, den Sie als den Entwickler des Flow-Konzepts kennen↩︎