4.6 Entscheidungsarchitektur: Bedingungen & Werkzeuge

In diesem Abschnitt werden die eher grundlegenden Beobachtungen und Erkenntnisse der vorigen Abschnitte noch weiter in Richtung Werkzeuge und Anwendung konkretisiert. Die Überschrift im Buch lautet daher auch “The Tools of the Choice Architect” (Thaler & Sunstein, 2021, S. 89).

Sie kennen vermutlich die eigentliche goldene Regel: “Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst” – oder in der gereimten Variante, die wir alle als Kinder gelernt haben: “Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu”. Eine nicht ganz so elegante Grundregel formulieren Thaler & Sunstein für den Ansatz des libertären Paternalismus: “Biete Nudges an, die wahrscheinlich helfen und wahrscheinlich nicht schaden.”

Unter welchen Bedingungen helfen Nudges? Unsere Autoren machen einige Vorschläge, die auf den Grundlagen der vorhergehenden Abschnitte aufbauen (in denen wir gesehen haben, wie Humans ticken): Nudges können angeraten sein,

  • wenn wir in einer Entscheidungssituation knappe Aufmerksamkeitsressourcen haben,
  • wenn wir vor schwerwiegenden Entscheidungen stehen,
  • wenn wir zu ähnlich gelagerten Entscheidungen aus der Vergangenheit kein Feedback bekommen haben – und damit keine Möglichkeit hatten, aus Fehlern zu lernen,
  • wenn die Situation für uns nicht transparent und verständlich ist.

Kurzes Zwischenfazit: An Nudges sollten wir in Situationen denken, die selten oder unvertraut sind und die gravierende Konsequenzen haben könnten.

Es gibt Firmen, die versuchen, unsere kognitiven Beschränkungen gegen uns zu richten. Kreditkartenunternehmer, Anbieter von Abo-Modellen, die auf unseren Present Bias, unsere Vergesslichkeit oder Trägheit setzen.

Beispiele für Unterstützungen können aus ganz unterschiedlichen Ecken kommen: elektronische Helferlein, die sich in meinem Smartphone verbergen und mich rechtzeitig auf eine erforderliche Handlung hinweisen (z. B. die Packstation, die mich informiert, dass mein Paket nur noch zwei Tage verfügbar ist und dann zurückgeschickt werden wird, wenn ich es nicht abhole). Das Erfragen von Umsetzungsabsichten kann die Wahrscheinlichkeit einer Handlung deutlich erhöhen. Das hat beispielsweise beim Einsatz vor Wahlen geklappt. Die Wahlbeteiligung stieg so um 4.1%.

In Situationen, in denen unsere Aufmerksamkeit durch mehrere Dinge beansprucht wird, können Checklisten helfen. Dieses nur scheinbar simple Werkzeug hat inzwischen den Weg von der Luftfahrt in die Medizin gefunden. Das ist nicht zuletzt dem Buch “The Checklist Manifesto” von Atul Gawande zu verdanken (Gawande, 2010). Eine Leseempfehlung! Checklisten bieten uns eine einfache Orientierung – auch in Situationen, die kognitiv herausfordernd sind, und in denen wir vielleicht sonst den einen oder anderen Punkt auf der Liste übersehen oder vergessen würden

Wir können von Nudges profitieren, wenn wir den Nutzen einer Entscheidung unmittelbar erleben, die Kosten aber erst später auf uns zukommen werden. Stichwort Time Discounting oder Kurzsichtige Präferenzen (Myopic Preferences).

Schwierige Entscheidungen, in denen verschiedene Attribute gegeneinander abgewogen werden müssen (und die damit unsere kognitiven Ressourcen strapazieren) erfordern Unterstützung. Wie wir gesehen haben, sind es gerade die wichtigen Entscheidungen, die selten sind. Das ist eine Kombination von Umständen, die besondere Unterstützung erfordern kann. Insbesondere, weil uns dann nur selten die Gelegenheit gegeben wird, aus unseren Erfahrungen zu lernen.

Ein vielleicht komischer Gedanke: Wir können nicht aus Entscheidungen lernen, die wir nicht getroffen haben. Genauer: Optionen, die wir nicht (oder vielleicht auch noch nicht) gewählt haben, liefern uns kein Feedback. Das ist einerseits selbstverständlich, kann aber geändert werden. Nudges können uns auf die kontrafaktische Entwicklung von Situationen hinweisen. Grafik-Simulationen können uns auf die Hautalterung hinweisen, wenn wir eine bestimmte Menge Zigaretten rauchen. Vermögensrechner können uns den Kontostand in 20 Jahren vermitteln, wenn wir bestimmte Sparstrategien wählen.

Wenn wir allgemein in Situationen sind, in denen wir nicht einschätzen können, wie unsere Handlungen mit unserem zukünftigen Wohlbefinden zusammenhängen, können Nudges unterstützen. Als Psycholog:innen wissen wir, dass diese Situation deutlich häufiger ist, als man vermuten könnte. Es ist unser Dauerzustand. Wir kennen ihn unter dem Namen “Affektiver Vorhersagefehler” – So sagen wir beispielsweise bei vielen unserer Kaufentscheidungen vorher, dass es uns durch den Erwerb des Produkts besser gehen wird. Diese positive Reaktion fällt dann regelmäßig sparsamer und kürzer aus als erwartet; wir adaptieren schnell. Wir legen durch weitere Kaufentscheidungen nach – und stecken mitten in der sog. hedon(ist)ischen Tretmühle (hedonic treadmill). Die Konsequenz: Hinweise auf tatsächliches/realistisches zukünftiges Wohlbefinden könnten uns öfter gut tun, als wir vielleicht vermuten würden. Nicht nur, wenn wir keine Ahnung haben, was wir aus der Speisekarte im Restaurant eines fremden Landes wählen sollten (Nudge: “Vielen unserer europäischen Gäste ist dieses Gericht etwas zu scharf …”).

Als gelernter Wirtschaftswissenschaftler denkt Richard Thaler natürlich erstmal an das Wirken von Märkten, um solche Probleme vielleicht durch das elegante Wirken dieser Kräfte zu lösen. Sorgen die Kräfte des Marktes vielleicht dafür, dass sich positive Mechanismen ganz automatisch entwickeln, um potenziell negative Einflüssen zu begegnen?

Thaler & Sunstein sind da nicht optimistisch. Sie sehen die Situation als zu unsymmetrisch. Die Verkäufer von Snake-Oil – ein Sinnbild für Leute, die uns Dinge aufschwatzen, die wir nicht brauchen – können mehr Geld verdienen als die Personen, die uns vor diesen Einflüssen schützen wollen. In modernen Zeiten haben sich die Einflussmöglichkeiten nochmals drastisch erweitert: Dauerwerbesendungen auf vielen Kanälen, Online-Werbung, Product-Placement etc.

Die Autoren kommentieren dazu:

Much of the time, more money can [be] made by catering to human frailties than by helping people to avoid them. Bars make a lot more money than Alcoholics Anonymous. So, if Humans have problems, they might benefit from a well-chosen nudge.

Thaler & Sunstein (2021), S. 102

Nochmal zusammengefasst die Bedingungen, unter denen wir von Nudges profitieren können:

people may most need a good nudge for choices that require memory or have delayed effects; those that are difficult, are infrequent, and offer poor feedback; and those for which the relationship between choice and experience is ambiguous.

Thaler & Sunstein (2021), S. 100 (die Hervorhebungen sind meine)

Mit Bezug auf die Entscheidungsarchitektur: Was können wir konkret tun? Wie setzen wir an? Gibt es Erfahrungen aus anderen Bereichen, die wir uns hier zunutze machen können? Auf den nächsten Folien adressieren die Autoren genau diese Fragen.

Auch hier gilt: Sie bringen dazu schon viel Hintergrundwissen aus dem Bereich Human Factors mit. Wir können es uns daher erlauben, einige Abschnitt einigermaßen schnell zu behandeln.

Mich freut besonders, dass sich Schritt für Schritt zwei Bereiche anzunähern scheinen, die meines Erachtens unbedingt zusammen gehören: Ergonomie (Human Factors) und Entscheidungsforschung. So hat Cass Sunstein in einer früheren Veröffentlichung bereits das “Don’t make me think” von Steve Krug prominent zitiert (Krug, 2014) – ein dünnes, aber sehr einflussreiches Buch zur Gestaltung und Evaluation von gebrauchstauglichen Internetauftritten.

Auch den abgebildeten Herrn kennen wir aus dem letzten Semester als Autor von “Design von Alltagsgegenständen”: Donald Norman (Norman, 2013). Und es geht hier jetzt auch genau um diese Designprinzipien: Affordances, Constraints, Mappings und so weiter.

Thaler & Sunstein schlagen die Brücke explizit:

The same principles of good design and functional architecture apply in the world of choices as well. Our primary mantra is a simple one: if you want to encourage some action or activity, Make It Easy.

Thaler & Sunstein (2021), S. 106 (die Hervorhebung ist meine)

Wir erkennen den Bezug zum Titel von Steve Krug, zum ersten Bestandteil des Akronyms EAST (“E” für “Easy”) und auch zu Kurt Lewins Channel Factors (vgl. Sozialpsychologie!). Wenn wir bestimmte Handlungen vereinfachen oder erleichtern, werden sie wahrscheinlicher. Und diese Vereinfachung erfolgt meist über die Gestaltung des Kontexts, der situativen Gegebenheiten, von Elementen der Entscheidungssituation.

Zu Defaults müssen wir nicht viel sagen. Die kennen wir inzwischen recht gut. Für eine Auffrischung hat Eric Johnson in seinem Buch “The elements of choice” ein eigenes Kapitel dazu (Johnson, 2021). Als Mitentdecker des Phänomens ist er natürlich eine der Koryphäen auf dem Gebiet. Das berühmte Diagramm zu den Organspendequoten in Europa, das Sie auf der nächsten Folie sehen, stammt auch von ihm und Kollegen.

Ein Default ist das, was passiert, wenn wir nichts tun. Irgendeine Art von Standard ist häufig unvermeidbar. Defaults wirken

  • über unsere Trägheit – wir sind nicht unbedingt dazu motiviert, etwas zu tun;
  • über den Status Quo Bias (bzw. die Verlustaversion) – die negativen Seiten von Änderungen haben ein negatives Übergewicht selbst bei Nullsummen;
  • zudem signalisieren Defaults eine soziale Norm“das macht man dann wohl so, also mache ich das auch”.

Wir müssen nur an die ganzen Standardeinstellungen von elektronischen Geräten denken, die wir besitzen. Wie viele dieser Einstellungen haben wir seit dem Kauf geändert? Welche haben wir so belassen? Vor allem, wenn wir nicht genau wissen, was eine solche Einstellung genau bedeutet, wenn wir also unsicher über die Umstände einer Handlung sind, tun wir lieber nichts. Wir akzeptieren damit den Default.

Das ist natürlich nicht immer der Fall. In einer Studie hat die OECD herausgefunden, dass Thermostate von Heizungen, deren Temperatur standardmäßig um ein Grad reduziert (bezogen auf die bisher verwendete Einstellung) ausgeliefert werden, zu einer deutlichen Einsparung von Heizkosten führen. Beträgt die standardmäßige Reduktion aber zwei Grad, steigen dadurch die Heizkosten; die Kund:innen verändern die Voreinstellung! Ein sehr interessanter und lehrreicher Befund, wie ich meine.

Defaults sind mächtige Werkzeuge und haben das Potenzial, dass sie in Diskussionen zur Ethik von Einflussnahme angreifbar sind; obwohl sie unserem Begriffsverständnis von Nudges entsprechen. Es werden keine Optionen entfernt oder übermäßige Anreize gesetzt.

Vor allem in sensiblen Entscheidungssituationen – wie beispielsweise beim Thema Organspende – sind Defaults vielleicht ein nicht perfekt geeignetes, weil u. U. zu effektives, Werkzeug. Hier könnte Active Choosing (oder auch Required Choice, Mandated Choice) eine Alternative darstellen. Ich werde in bestimmten Situationen mit der Entscheidung konfrontiert und muss dann eine Entscheidung treffen.

Die aktuelle Cookie-Politik von Webseiten funktioniert nach diesem Schema. Wenn Sie auf einer Seite bleiben wollen, müssen Sie sich für eine Option entscheiden. Sie haben die Wahl. (Die Optionen werden häufig nicht gleichwertig angeboten – die Option, die den Betreiber:innen in die Hände spielt, ist meist deutlich leichter wahrnehmbar und somit auch verfügbarer. Aber das ist ein anderes Thema.)

Active Choice hat offensichtliche Vorteile: Wir werden dazu gezwungen, uns über unsere Präferenzen klar zu werden. Unser System 2 wird direkt angesprochen. Damit werden wir genötigt, unsere Trägheit und vielleicht auch Prokrastination zu überwinden. Aber darin steckt auch der Nachteil: Wollen wir das denn immer? Ist es nicht vielleicht eher in meinem Interesse, dass jemand einen – vielleicht auch personalisierten – Default für mein Internetverhalten formuliert, dem ich einmal zustimme und dann vergessen kann. So dass ich mich nicht jedesmal beim Besuch einer neuen Internetseite wieder mit diesem blöden Cookie-Dialog herumärgern muss?!

Ein Kompromiss könnte im Prompted Choice bestehen; beispielsweise auch für die Organspende. In bestimmten, vielleicht sogar regelmäßigen, Situationen wird mir die Entscheidung angeboten. Ich muss sie aber nicht treffen, sondern kann sie ignorieren. (Dann sollte aber automatisch irgendeine Art von vernünftigem Default gelten!) Als Daumenregel empfehlen die Autoren, Active Coice eher bei einfachen Ja/Nein-Entscheidungen anzubieten. Komplexere und emotional aufgeladene Entscheidungssituationen (z. B. Organspende) sind ihrer Ansicht nach dazu eher nicht geeignet. Hier sollte man Prompted Choice erwägen.

Die Fehlerforschung bildet eine wichtigen Domäne im Bereich der Ergonomie. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass Menschen die Dinge tun, die wir von ihnen erwarten, und dass sie Dinge so tun, wie wir es erwarten. Wir sollten immer davon ausgehen, dass Fehler gemacht werden. Ganz im Sinne von Murphy’s Law: “Anything that can go wrong, will go wrong”. Auf gestaltete Produkte den “Murphy-Test” anzuwenden, ist daher immer eine gute Idee: Testen, was alles schief gehen kann. Das gilt auch für die Gestaltung von Entscheidungsarchitekturen: Erwarten Sie und gestalten Sie für Fehler!

Wie kann die Situation gestaltet werden, damit man im Auto den Gurt anlegt, damit man rechtzeitig das Wischwasser nachfüllt, damit sichergestellt werden kann, dass der Fahrer nicht zu müde oder zu betrunken ist, um zu fahren? – Manche dieser Dinge können wir durch Hinweise und Informationen erreichen. Manche Dinge können durch Forcing Functions erreicht werden (z. B. ein obligatorischer Atemalkoholtest, ohne den das Auto nicht gestartet werden kann). Hier sehen wir sehr gut, dass sich Erkenntnisse aus dem Bereich Human Factors sehr gut in den Werkzeugkasten für die Gestaltung von Entscheidungsarchitekturen einfügen.

Ein konkretes Beispiel, über das Sie nachdenken können: Wie können wir die Entscheidungssituation für die Einnahme von Medikamente so gestalten, dass weniger Fehler passieren? Ein verwandtes Beispiel: Wie ist die Einnahme der Antibabypille gestaltet, so dass hier keine Fehler gemacht werden – sprich: so dass die Einnahme nicht versäumt wird? Wie können wir Informationen, Commitment Devices, Defaults, Forcing Funcktions, Constraints usw. einsetzen?

Es gibt unterschiedliche Arten von Fehlern. Vor allem Fehler, die auf Grund fehlender Erfahrung gemacht werden, erfordern geeignetes Feedback. Gutes Feedback hilft uns, Fehler zukünftig zu vermeiden und unsere Leistung zu verbessern. Das gilt auch in Entscheidungssituationen.

Alle unsere Entscheidungen beinhalten ein Element der Prognose. Wir sagen die Zukunft vorher. Deshalb entscheiden wir uns so, wie wir es eben tun. Wenn wir glauben würden, dass sich die Zukunft – inklusive unseres Erlebens und Verhaltens – anders darstellen wird, würden wir uns anders entscheiden. Bei der Entscheidung für eine Eissorte ist das sehr simpel: Wir erwarten, dass uns die Sorte, die wir wählen, den größten Genuss bringt; bzw. dass es nicht mehr nötig ist, alle 30 Sorten gedanklich zu simulieren, da ich schon eine gefunden habe, die mir ausreichend Genuss verspricht (Stichwort Satisficing).

Es gibt aber auch Entscheidungssituationen, deren Folgen für unser Erleben und Verhalten weniger klar sind. Die Wahl zwischen verschiedenen Arten der Behandlung einer schweren Erkrankung zum Beispiel. Hier ist es die Aufgabe von Entscheidungsarchitekt:innen die relevanten Informationen so leicht verständlich aufzubereiten und darzustellen, dass die Folgen einer Entscheidung transparent und gut nachvollziehbar bzw. vorhersehbar sind.

Für die Kommunikation von Risiken (z. B. der angesprochenen Behandlungsmöglichkeiten) bedeutet das, dass wir nicht auf Zahlenkompetenz bauen sollen. Wir sollten alle relevanten quantitativen Informationen möglichst konkret und in absoluten Häufigkeiten darstellen, wie das beispielsweise im Bild rechts getan wird, wo Informationen zum Brustkrebsscreening gezeigt werden.

Wenn Wahlalternativen sich in mehreren Dimensionen unterscheiden, wird eine Entscheidung komplexer. Das gilt natürlich nur für Humans, nicht für den Econ Mr. Spock. Vor allem in solchen Situationen gilt, dass wir versuchen, uns das Leben leichter zu machen – meist nicht bewusst – indem wir die Entscheidung heuristisch angehen. Wir ersetzen die aufwändige Abwägung mit vereinfachenden Strategien. Eine dieser Strategien ist beispielsweise das von Amos Tversky schon in der 1970ern beschriebene Elimination by Aspects. Ich belasse es bei der Bezeichnug “Strategie” und verwende nicht “Heuristik”, da nach unserem Verständnis heuristisches Verhalten eher ein automatisches Verhalten ist. Hier kann das Eliminieren durchaus reflektiert stattfinden. Nach dieser Strategie reduzieren wir eine Menge an Alternativen, indem wir zuerst das wichtigste Attribut betrachten und alle Alternativen entfernen, die für dieses Attribut ungenügend sind. Das machen wir für so viele wichtige Attribute, bis die Menge der Alternativen für uns handhabbarr ist.

Manche Alternativen stehen aber in einem kompensatorischen Verhältnis zueinander. Wenn ich eine neue Wohnung suche, bin ich vielleicht gewillt, einen etwas weiteren Weg in die Arbeit zu akzeptieren, wenn Größe und Preis stimmen. Dann würde eine Eliminationsstrateie wie eben beschrieben vielleicht dazu führen, dass die entsprechende Wohnung schon in der ersten Runde am Kriterium “Entfernung” gescheitert ist.

Unsere Aufgabe als Entscheidungsarchitekt:innen wird in komplexeren Situationen schwieriger. Wir müssen die Strukturierung von Entscheidungssituationen unterstützen, so dass eine gute Entscheidung möglich wird.

Entscheidungsarchitekturen von Online-Plattformen können auf die Aktivitäten, Entscheidungen und Daten von vielen Nutzer:innen zugreifen, um uns die Entscheidungen zu erleichtern. Durch das Verhalten von Personen, die mir in wichtigen Aspekten ähnlich sind, kann auf meine Präferenzen und mein Verhalten geschlossen werden. Dieses sog. kollaborative Filtern kann auch auf Ebene einzelner Kaufentscheidungen ergfolgen (Menschen, die Produkt X gekauft haben, haben auch Produkt Y gekauft). Dieser Daten-gestütze Mechanismus ist ein zentraler Bestandteil von Recommendersystemen von Online-Angeboten, die wir alle von Amazon, Netflix, Booking etc. kennen.

Diese Empfehlungssysteme enthalten inzwischen allerdings auch immer eine Möglichkeiten, das Empfehlungskorsett zu sprengen. Dieses Überraschungselement (engl. Serendipity) bietet Raum, neue Entdeckungen zu machen.

Anreize sind ein klassisches ökonomisches Werkzeug, um Verhalten zu beeinflussen. Dabei denkt die Ökonomie meist an materielle, finanzielle Anreize. Aber auch diese haben aus Sicht des Behavior Design viel Gestaltungsspielraum.

Wir wissen aus der Aufmerksamkeitsforschung, dass der kognitive Lichtkegel, in den wir Dinge und Situationen setzen, ihre Bedeutung übertreibt. Das Stichwort dazu ist die Fokussierungsillusion (Focusing Illusion). Kahnemans Aphorisums dazu: “Nichts im Leben ist so wichtig, wie man glaubt, wenn man darüber nachdenkt” (Kahneman, 2012, S. 496 – das ist es wert, dass man es sich merkt – und regelmäßig in Situationen hervorholt, in denen wir glauben, uns empören oder sonstwie extrem reagieren zu müssen!). Unsere selektive Aufmerksamkeit überbetont das Selektierte und unterbetont alles andere. Bei einem Verarbeitungssystem mit begrenzten Ressourcen ist das langfristig eine gute Strategie. Es führt aber hin und wieder zu unerwünschten Phänomenen und damit zu Gestaltungsspielraum für das Behavioral Design.

So haben wir beispielsweise die Tendenz, Opportunitätskosten zu vernachlässigen (Frederick et al., 2009). Wenn wir uns für eine Alternative entscheiden, bezahlen wir dabei regelmäßig damit, dass wir nun alle anderen Alternativen nicht mehr wählen können. Wenn Sie Fach X studieren, können Sie nun – zumindest auf absehbare Zeit – Fach Y und Z nicht studieren.

Das ist ganz offensichtlich richtig. Diesen Eindruck haben wir subjektiv allerdings überhaupt nicht: Wir scheren uns meist nicht um die entgangenen Optionen, also die Opportunitätskosten. Das führt wiederum dazu, dass Entscheidungen anders verlaufen, wenn uns jemand auf die Opportunitätskosten einer Entscheidung hinweist.

Manchmal reicht schon der Hinweis auf ganz normale Kosten, die nicht offensichtlich sind, um eine Entscheidung zu beeinflussen: So sind die meisten Kosten eines eigenen PKWs – bis auf das regelmäßige Tanken – nicht offensichtlich. Die Kosten des ÖPNV sind das allerdings schon. Wir können uns überlegen, welche Folgen ein “Taxometer” im Auto hat, das uns diese verborgenen Kosten auf den gefahrenen Kilometer umrechnet und prominent anzeigt.

Auch Steuern sind ein klassischer finanzieller Anreiz, den Ökonomen gerne und auch erfolgreich einsetzen. Allerdings gibt es auch hier sicher noch Luft nach oben. Die meisten Steuern, die wir bezahlen, sind für uns meist völlig intransparent und nicht wahrzunehmen. Wir werden nicht darauf aufmerksam (gemacht). Forschungsergebnisse zeigen, dass der Einsatz von Standardvorgaben (Defaults) regelmäßig effektiver ist als eine Erhöhung/Reduktion von Steuern.

Cass Sunstein hat das Akronym EAST erweitert: Er ergänzt es um den Spaß (Fun) zu FEAST. Das ist nachvollziehbar: Wenn wir Dinge gerne tun, wird es wahrscheinlicher, dass wir sie tun. Tom Sawyers Freunde bemitleiden ihn, als sie sehen, dass er den Gartenzaun streichen muss. Er kann sie überzeugen, dass er großen Spaß an dieser Tätigkeit hat, zu der man ja nicht oft die Gelegenheit bekommt. Schließlich bezahlen ihn seine Freunde, dass sie selber auch streichen dürfen.

Auch viele Ansätze, die wir unter der Überschrift Gamification kennen, sollen den Spaß an einer Aktivität erhöhen. Wenn Anreize um ein Element der Unsicherheit kombiniert werden, also zu einer Art Lotterie werden, zielen sie ebenfalls auf das Element Spaß ab. Alle diese Ansätze sollten aber nur sparsam eingesetzt und unbedingt regelmäßg evaluiert werden. So gibt es auch Menschen, die auf Gamification-Neuerungen im Berufsumfeld mit heftiger Reaktanz antworten.

Die Adressaten von Smart Disclosure sind die Behörden und Gesetzgeber. Lesen Sie dazu gerne Kapitel 7 von Nudge. Wir klären nur den Begiff, diskutieren das Thema aber nicht in der Tiefe.

Smart Disclosure soll Probleme des Kleingedruckten lösen. Die AGBs von Firmen sollten ja eigentlich bestimmte Informationen für uns zugänglich machen. Tatsächlich liest kein Mensch das Kleindgedruckte. Von Offenlegung – Disclosure – kann damit keine Rede sein.

Smart Disclosure soll das ändern. Es hat zwei Hauptkomponenten: Die Informationen sollten in einem standardisiertem, maschinenlesbarem Format veröffentlicht werden. Damit haben Drittanbieter die Möglichkeit, beispielsweise systematische Vergleiche zwischen verschiedenen Angeboten zu erstellen. Damit wird die Wahl für die eigentlichen Adressaten leichter.

Das betrifft nicht nur typische kommerzielle Anbieter. Auch öffentliche Versorger wären betroffen. Wir sind bei der zweiten Komponente: Wenn die Daten zu Verhaltensdaten (z. B. Verbrauchsdaten von Haushalten) öffentlich und anonym verfügbar gemacht würden, können darauf aufbauend neue Geschäftsmodelle entstehen.

Die Maschinenlesbarkeit der Informationen unterstützt die Entwicklung von Aggregatoren, Meta-Suchmaschinen, neuen Geschäftsmodellen. Für Verbraucher:innen hat das alles potenziell großen Mehrwert: Warnungen vor Lebensmittel-Inhaltsstoffen für Allergiker:innen; Vergleich von Hypothekenanbietern usw.

Ein Beispiel dafür ist der britische Service Uswitch: “[Uswitch] is a UK-based price comparison service and switching website founded in 2000. The site allows consumers to compare prices for a range of energy, personal finance, insurance and communications services” (Wikipedia, 2022b).

Für eine ausführliche Diskussion der verbleibenden Abschnitte fehlt uns leider die Zeit/der Raum. In den folgenden Abschnitten verweise ich auf weiterführende Materialien. Die Folien sollten Sie dabei unterstützen, sich die Inhalte zu erarbeiten.

Literatur

Frederick, S., Novemsky, N., Wang, J., Dhar, R., & Nowlis, S. (2009). Opportunity cost neglect. Journal of Consumer Research, 36(4), 553–561. https://ink.library.smu.edu.sg/cgi/viewcontent.cgi?article=2294&context=lkcsb_research
Gawande, A. (2010). Checklist manifesto, the (HB). Penguin Books India.
Johnson, E. J. (2021). The elements of choice: Why the way we decide matters. Riverhead Books.
Kahneman, D. (2012). Schnelles denken, langsames denken. Siedler.
Krug, S. (2014). Don’t make me think! New Riders.
Norman, D. A. (2013). The design of everyday things. Basic Books.
Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2021). Nudge – final edition. Penguin Books.
Wikipedia. (2022b). Uswitch. Zugriff am 22.08.2022. https://en.wikipedia.org/wiki/Uswitch