4.2 Grundlegendes, Begriffe

Beginnen wir mit den grundlegenden Begriffen. Was ist ein Nudge? Was tut man, wenn man Nudging betreibt?

Dazu zuerst die beiden Autoren von Nudge (Thaler & Sunstein, 2009):

A nudge, as we will use the term, is any aspect of the choice architecture that alters people’s behavior in a predictable way without forbidding any options or significantly changing their economic incentives. To count as a mere nudge, the intervention must be easy and cheap to avoid. Nudges are not mandates. Putting fruit at eye level counts as a nudge. Banning junk food does not.

Thaler & Sunstein (2009), S. 6 (die Hervorhebungen sind meine)

Es geht also um die – meist, aber nicht immer kurzfristige – Änderung von Verhalten. Dabei gibt es keine Verbote oder starke Anreize. Die Menge an Optionen wird nicht eingeschränkt.

Sunstein & Reisch (2019) und Sunstein (2020) ergänzen diese Begrifflichkeit noch folgendermaßen:

[Nudges are] interventions that steer people in particular directions but that also allow them to go their own way” (Sunstein & Reisch, 2019; S. 1).

Sunstein & Reisch (2019), S. 1

Mit dieser Beschreibung wird der Begriff der Navigierbarkeit zwar nicht direkt verwendet, aber implizit angelegt, den wir auf den nächsten Folien sehen.

The central goal of such nudges is to ‘make choosers better off, as judged by themselves.’

Sunstein (2020), S. 563

Die Qualifizierung “as judged by themselves” ist insbesondere in der rechtlichen Diskussion von großer Bedeutung und wird of auch als AJBT-Kriterium abgekürzt.

Für den Vorgang, einen Nudge anzuwenden, betont Hansen (2018) vor allem den wissenschaftlichen Ansatz und das Ziel einer Verhaltensänderung:

[N]udging is the systematic and evidence-based development and implementation of nudges in creating behavior change.

Hansen (2018) (die Hervorhebungen sind im Original)

Ausgangspunkt der Überlegung zu Nudges und Nudging ist die Erkenntnis, dass es in jeder Entscheidungssituation Nudge-artige Einflüsse gibt; ob diese nun geplant sind oder auch nicht. Jede Entscheidung hat ihre Architektur, genau wie jedes Gebäude seine Architektur hat. Diese Architekturen können zufällig entstanden oder sorgfältig geplant worden sein. Eine Entscheidung ohne Einflüsse gibt es aber nicht.

Das ist ein wichtiger Punkt, da das von vielen Kritiker:innen häufig ignoriert wird. Die Alternative von Nudging ist es meist nicht, nicht zu nudgen, sondern anders zu nudgen – zum Beispiel dadurch dass man eine Entscheidungsarchitektur so belässt, wie sie sich in ihrem Ausgangszustand darstellt. Das kann dann beispielsweise die alphabetische Sortierung von Kandidat:innen einer Stadtratswahl sein, die die IT irgendwann mal so festgelegt hat. Diese Reihenfolge übt einen Einfluss aus; sie ist ein Nudge – der aber nicht bewusst eingesetzt wird.

Thaler und Sunstein sprechen hier meist von Choice Architecture. Ich möchte den Begriff gerne etwas weiter fassen, unter anderem deshalb, weil die Übersetzung Wahl des englischen Choice die Bedeutung einschränken würde. Stattdessen verwende ich den Begriff Entscheidungsarchitektur und glaube damit aber, dass ich die Essenz des Konzepts einigermaßen treffe und den Erfindern nicht zu nahe trete.

Kurz zusammengefasst: Eine Entscheidungsarchitektur wird gebildet durch die Struktur aller Elemente einer Entscheidungssituation, die Einfluss auf das Verhalten von Entscheider:innen haben.

Wie wir feststellen werden – und zum Teil auch schon wissen – sind das überraschend viele Elemente. Einflüsse, an die man nicht ohne weiteres denken würde; vor allem nicht, wenn man von einem Verhaltensmodell wie dem Homo Oeconomicus ausgeht. Richard Thaler nennt diese Einflüsse auch supposedly irrelevant factors oder kurz SIFs (Thaler, 2015).

4.2.1 Libertärer Paternalismus

Das Buch Nudge hat sich wohl auch deshalb so gut verkauft, weil es einen griffigen Titel hat (dazu gleich mehr). Ursprünglich sollte es die eher wissenschaftlich-drögere Phrase Libertärer Paternalismus im Titel haben; wie auch ein Artikel, der das Konzept als theoretischen Überbau des Nudging beschreibt (Sunstein & Thaler, 2003): “Libertarian paternalism is not an oxymoron”.

Nudging hat libertäre und paternalistische Elemente:

The libertarian aspect of our strategies lies in the straightforward insistence that in general, people should be free to opt out of specified arrangements if they choose to do so

In our understanding, a policy therefore counts ‘paternalistic’ if it attempts to influence the choices of affected parties in a way that will make choosers better off, as judged by themselves

Sunstein & Thaler (2003), S. 3-4 (die Hervorhebungen sind meine)

Der Begriff Libertärer Paternalismus fasst diese beiden Elemente zusammen und sollte – so hoff(t)en die Erfinder – für beide politischen Lager (vor allem in den USA) akzeptabel sein.

4.2.3 Beispiele

Der berühmteste Nudge ist sicherlich das Pissoir am Amsterdamer Flughafen Schiphol. Hier wurde das Problem der ungenauen Zielfertigkeit der männlichen Toilettenbesucher unkonventionell gelöst. Das geschickt platzierte Abbild einer kleinen Fliege war die Lösung. Die Verschmutzung rund um das Pissoir hat deutlich abgenommen. Diese kleine Intervention verringert nicht die Menge an Optionen, für die man sich entscheiden könnte. Er arbeitet nicht mit starken monetären Anreizen. Offenbar ist es Anreiz genug, bei der Verrichtung seines Geschäfts auf die Fliege zielen zu können. Wir haben es nach unserer Definition hier tatsächlich mit einem – zudem sehr erfolgreichen – Nudge zu tun.

Es gibt unendlich viele Ansätze für Nudges. Sunstein verwendet regelmäßig in seinen Veröffentlichungen zum Thema eine überschaubare Liste:

  • Default-Regeln: Was passiert, wenn wir nichts tun?
  • Vereinfachung: Alles, was einer Handlung die Reibung nimmt, indem es die Komplexität, den erforderlichen körperlichen oder kognitiven Aufwand reduziert, macht diese Handlung wahrscheinlicher.
  • Soziale Normen: Das erinnert uns an Robert Cialdini; hierzu passen alle Ausführungen aus Abschnitt 2.5 zur sozialen Bewährtheit.}
  • Offenlegung (Disclosure): z. B. alle Kosten von Flugreisen
  • Umsetzungsabsichten (Implementation Intentions): Wenn Menschen nach den konkreten Umständen gefragt werden, in denen sie ein bestimmtes Verhalten zeigen, macht das dieses Verhalten wahrscheinlicher (“Um wieviel Uhr werden Sie am Sonntag zur Wahl gehen. Wie kommen Sie zum Wahllokal, wenn es regnet? Wird Sie jemand begleiten?” usw.)
  • Pre-Commitment Strategien: Es wäre beispielsweise eine Pre-Commitment-Strategie, wenn Sie jetzt einen Abovertrag für ein Fitnessstudio unterzeichnen, der zum ersten Januar des nächsten Jahres startet. Wenn der Aufwand einer Entscheidung in der Zukunft liegt, wird sie leichter im Jetzt getroffen.
  • Information zu individuellem Verhalten: z. B. Verbrauch von Gas in der vergangenen Woche
  • Erinnerungen
  • Warnungen

Damit der Kontext klar bleibt: Alle diese Maßnahmen können eingesetzt werden, um Entscheidungsarchitekturen im Sinne der Entscheidenden zu gestalten. Sie sind das Nudging-Handwerkszeug; Teile unseres Werkzeugkastens.

Nudges haben vor allem in der Gestaltung politischer Interventionen Popularität entwickelt – vor allem vermutlich dadurch, dass die meisten Nudges verhältnismäßig kosteneffizient sind.

Hier ist es vielleicht ganz sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, was denn die üblichen Ansatzpunkte politischer Interventionen sind. Die stammen aus dem etwas mager bestückten Werkzeugkasten der Volkswirte und Juristen: Gebote, Verbote und finanzielle Anreize in Form von Steuern bzw. Steuererleichterungen.

Nudges treten hierzu aber nicht Opposition! Sie ergänzen den Werkzeugkasten um Ansätze, die die die Entscheidungsfreiheit erhalten; die Menschen in bestimmte Richtung lenken, aber auch eigene Wege gehen lassen.

Literatur

Hansen, P. G. (2018). BASIC – A New Framework for Applying Behavioural Insights. Zugriff am 19.08.2022. https://www.pelleonline.org/behaviour.html
Sunstein, C. R. (2020). “Better off, as judged by themselves”: Bounded rationality and nudging. In Routledge handbook of bounded rationality (pp. 563–569). Routledge.
Sunstein, C. R., & Reisch, L. A. (2019). Trusting nudges: Toward a bill of rights for nudging. Routledge.
Sunstein, C. R., & Thaler, R. H. (2003). Libertarian paternalism is not an oxymoron. The University of Chicago Law Review, 1159–1202.
Thaler, R. H. (2015). Misbehaving: The making of behavioral economics. WW Norton.
Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2009). Nudge – improving decisions about health, wealth, and happiness. Yale University Press.

  1. Schreibt man das so?↩︎