2.5 Soziale Bewährtheit
Wir Menschen sind soziale Wesen. Deshalb ist das Verhalten unserer Artgenossen eine Richtschnur, um unser eigenes Verhalten zu gestalten oder zu bewerten. Wir tun tendenziell das, was auch andere tun. Das ist soziale Bewährtheit. Auch hier geht es im Grunde wieder um Verringerung von Anstrengung und Komplexität. Wenn ich das tue, was andere tun, muss ich mein eigenes Verhalten nicht aufwändig ableiten und planen. In diesem Sinn ist die soziale Bewährtheit wieder eine Entscheidungsheuristik, eine Daumenregel, die wir zur Steigerung unserer Verhaltenseffizienz einsetzen.
Besonders wirksam ist diese Richtschnur, wenn wir uns einer Sache oder Situation nicht sicher sind. Wenn wir nicht genau wissen, was zu tun ist oder was die günstigste Handlung sein könnte, orientieren wir uns gern an Vorbildern. Das machen wir besonders gern und häufig, wenn wir Vorbilder greifbar haben, die uns in möglichst vielen Belangen ähnlich sind. Dabei kann Ähnlichkeit sehr unterschiedliche und vielfältige Dimensionen haben: Aussehen, Alter, Beruf, Einstellung, Herkunft usw.
Die soziale Bewährtheit ist zudem ein Erklärungsansatz für den sog. Bystander-Effekt. Wenn in einer hochfrequentierten Fußgängerzone jemand zusammenbricht und offensichtlich Hilfe benötigt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass derjenigen Person tatsächlich geholfen wird, nicht automatisch höher als in Situationen mit nur wenigen Beobachtern. Ganz im Gegenteil. Viele Beobachter, die nicht eingreifen, sind für mich als möglichen Akteur in der Situation ein Hinweis darauf, dass ich zumindest nicht allein da stehe, wenn ich auch nichts tue. Das ist die eine Hälfte des Effekts. Die andere ist die Verantwortungsdiffusion: Viele weitere Personen, die Verantwortung übernehmen können, bewirken, dass ich mich individuell eben nicht mehr verantwortlich fühle. Beides kombiniert, kann dann dazu führen, dass bei einer steigenden Zahl von Beobachtern die Wahrscheinlichkeit auf Hilfe abnimmt. Konsequenz für Sie: Wenn Sie eine Notsituation wahrnehmen, handeln SIE – da die Wahrscheinlichkeit, dass es die anderen tun, sehr viel kleiner ist, als Sie glauben.
Die soziale Bewährtheit wird natürlich auch taktisch eingesetzt. So bauen die eingespielten Lacher in SitComs darauf auf – nach dem Motto: die anderen lachen an der Stelle auch. Auch die Hinweise im E-Commerce, dass sich ein bestimmter Artikel gut verkauft, argumentiert in diese Richtung: “Das ist unser beliebtestes Produkt aus der Reihe XY”. Hinweise wie diesen, sehen wir häufig.
Ein sehr berühmtes Experiment zur sozialen Bewährtheit hat Solomon Asch durchgeführt. Er hat das Konformitätsverhalten seiner Proband:innen untersucht – quasi eine Folge der soz. Bewährtheit. Den Teilnehmern eines Versuchs wurden drei unterschiedlich lange Linien gezeigt. Eine Beispielfrage sehen Sie auf der nächsten Folie. Gefragt wurde, welche der drei rechten Linien so lang wie die linke Vergleichslinie wäre. Eigentlich eine leichte Frage. Alle Proband:innen konnten sie richtig beantworten, … wenn sie die ersten waren, die antworten sollten. Die Situation ändert sich aber, wenn zwei oder drei Teilnehmer vorher eine andere Einschätzung abgeben; die ganz offensichtlich falsch ist. Und die Proband:innen glauben auch nicht, dass sie die Situation tatsächlich falsch oder optisch verzerrt wahrnehmen. Trotzdem führen diese zuerst abgegebenen – von der eigenen Einschätzung abweichenden – Urteile, die auch noch alle übereinstimmen, dazu, dass auch Sie vermutlich Ihre Antwort das ein oder andere Mal entsprechend anpassen. Die Proband:innen verhalten sich konform den Urteilen der anderen Personen, die natürlich speziell instruiert waren und Urteile abgaben, die vorher abgesprochen worden sind.
Das Verhalten anderer dient uns als Norm. Aber wir müssen hier vorsichtig sein. Norm steckt sowohl in normal als auch in normativ. Normal bedeutet, dass es üblich ist, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten. Eine Norm in diesem Sinn wird als deskriptiv – oder auch beschreibend – bezeichnet. Normativ hingegeben bedeutet, dass wir uns auf eine bestimmte Art verhalten sollten. Eine Norm in diesem Sinn wird als injunktiv bezeichnet.
Cialdini erklärt uns den Einfluss deskriptiver und injunktiver Normen auf unser Verhalten an einem Beispiel. In den USA gibt es einen Nationalpark, in dem Holzversteinerungen zu finden sind. Diese sind ein beliebtes Mitbringsel von Besuchern des Nationalparks. Ca. 3% aller Parkbesucher:innen greifen zu. Dadurch nimmt der Bestand an den Fossilien stetig ab. Die Parkverwaltung wollte dem Einhalt gebieten und stellte daher entsprechende Hinweisschilder auf. Der erste Versuch verwendete eine deskriptive Norm: “Viele Besucher nehmen etwas mit u. zerstören so den natürlichen Zustand des Parks”. Die Folge war, dass sich die Zahl der Fossiliendiebe drastisch erhöht hat: von 3 auf 8%.
Warum? Durch diese Aussage wird es normal, das versteinerte Holz mitzunehmen. Die Aussage wird eher nicht als Verbot aufgefasst, sondern als Freibrief, da ja viele andere auch so handeln. Wird die Aussage zu einer injunktiven Norm umformuliert – “Bitte nehmen Sie nichts mit, um den natürlichen Zustand des Parks zu erhalten” – funktioniert der Hinweis besser. Jetzt verringern sich die ursprünglichen 3 auf 2%.
Was ist die Lehre aus diesem Beispiel? Wenn Sie sozial unerwünschtes Verhalten reduzieren möchten, das aber weit verbreitet ist, verwenden Sie injunktive Normen. Die Verwendung deskriptiver Normen klappt allerdings, wenn Sie darauf verweisen, dass die Mehrheit sich entsprechend den Regeln verhält; wenn Sie also nicht auf die große Zahl an Abweichlern, sondern auf die Konformisten verweisen. Der zugrundeliegende Mechanismus ist auch hier wieder die soziale Bewährtheit.
Zwei weitere Beispiele zur Wirksamkeit dieses Ansatzes:
Im Beispiel 1 wurden an Fahrrädern Werbeanhänger angebracht. Dabei wurde der Vermüllungsgrad der Umgebung manipuliert. In einem Fall war das Umfeld pico bello sauber (die beiden Balken links). Im andern Fall lag viel Müll in der Gegend (die beiden Balken rechts). Kombiniert wurden diese beiden Situationen mit dem Verhalten einer Person – eines Modells, das an den Proband:innen entweder einfach vorbei ging (die schwarzen Säulen) oder aber einen Werbeanhänger auf den Boden warf (die hellgrauen Säulen). Überprüft wurde, wie viele Prozent der Versuchsteilnehmer:innen – die natürlich nicht wussten, dass sie gerade Proband:innen:innen sind – ihren Anhänger wegwarfen.
Was waren die Ergebnisse? Die saubere Umgebung führt dazu, dass die VPn weniger oft ihren Anhänger wegwarfen. Anders bei der vermüllten Umgebung. Hier wird der eigene Müll gern hinzugefügt. Der Einfluss des Modells ist hier sehr interessant, da der davon abhängt, ob die Umgebung sauber oder vermüllt ist. In einer sauberen Umgebung wird das Wegwerfen durch das Modell als Fehlverhalten – als von der deskriptiven UND injunktiven Norm abweichendes Verhalten – interpretiert. Das eigene Verhalten wird dadurch noch mehr in die beiden Norm-Richtungen gelenkt.
Wenn das Modell hingegen in einer eh schon vermüllten Umgebung etwas wegwirft, wird der eigene Hang zum Wegwerfen noch verstärkt. Das Modell-Verhalten ist nun konform mit der deskriptiven Norm. Die injunktive Norm wird hier offenbar nicht als sehr gewichtig interpretiert.
Ein weiteres Beispiel: Wenn Sie schon mal in einem Hotel genächtigt haben, kennen Sie den Badezimmer-Code: Handtücher auf dem Boden sollen bitte durch neue ersetzt werden. Handtücher über der Stange werden weiter verwendet. Dem Hotelpersonal ist die zweite Variante natürlich lieber: weniger Aufwand und dadurch weniger Kosten. Wenn die Gäste dazu bewegt werden könnten, ihre Handtücher länger zu verwenden, wäre das daher ein durchaus geldwerter Fortschritt.
Wie könnte man dazu vorgehen? Ein Hotel hat einen entsprechenden Versuch durchgeführt. Die Gäste wurden darüber informiert, dass es aus Gründen des Umweltschutzes sinnvoll wäre, Handtücher mehrfach zu verwenden. Das führte zu einer nur geringfügig erhöhten Mehrfachverwendung. Deutlich erfolgreicher war der zusätzliche – wahrheitsgemäße – Hinweis darauf, dass die überwiegende Mehrheit der Gäste ihre Handtücher mehrfach verwenden. Noch erfolgreicher ist dieser Hinweis dann, wenn er speziell für die Gäste in diesem bestimmten Zimmer formuliert wurde. Je näher einem die soziale Bewährtheit kommt – räumlich oder auch in Sachen Ähnlichkeit, – desto wirksamer ist sie.
Für eine weitere Praxisanwendung der sozialen Bewährtheit dürfen Sie selbst aktiv werden. Suchen Sie bei YouTube nach den Begriffen “Keep America Beautiful” und “Crying Indian”3 Sie werden ein Video einer alten Werbekampagne finden, die zum Ziel hatte, die Umweltverschmutzung zu reduzieren. Vor dem Hintergrund des eben Gehörten: Schätzen Sie den Erfolg der Kampagne ein!
Aktuell finden Sie das Video unter diesem Link: https://www.youtube.com/watch?v=h0sxwGlTLWw↩︎