4.3 Entstehung und Entwicklung

Den “historischen” Beginn hat das Nudging vermutlich in der Frage an Richard Thaler: Was würdest du als Verhaltenswissenschaftler vorschlagen, um das Problem anzugehen, dass Menschen zu wenig für ihren Ruhestand zurücklegen? Vielleicht kennen Sie die Antwort: Save More Tomorrow! Ein Konzept, das Present Bias, Verlustaversion, die psychologische Trennung von Verlusten und Gewinnen, abnehmende Empfindlichkeit gegenüber Gewinnen, Defaults und sozialen Normen/soziale Bewährtheit äußerst erfolgreich einsetzt, um das Ziel vollerer Rentenkonten zu erreichen.

Als Richard Thaler zu diesem Thema referierte, wurde er von einem Kollegen quasi gemaßregelt: “Aber ist das nicht Paternalismus?” – unter Chicagoer Wirtschaftswissenschaftlern eine durchaus heftige Beleidigung. Thaler sah, dass das hier mit reinem Paternalismus wenig zu tun hatte – seine Antwort lautete daher: “Vielleicht sollten wir es, ich weiß nicht, libertären Paternalismus nennen.”

Aus dem Ansatz wurde 2003 ein Artikel, den Thaler zusammen mit Cass Sunstein schreibt (s. o.): “Libertarian Paternalism is not an oxymoron” (Sunstein & Thaler, 2003). Aus dem Artikel wurde fünf Jahre später ein Buch, für das die Autoren erstmal keinen größeren Herausgeber fanden: Nudge. Der Begriff “Nudge” wiederum war der Vorschlag eines der Herausgeber, der sich – verständlicherweise – nicht mit dem Titel “Libertärer Paternalismus” anfreunden konnte. Das Buch wurde schließlich vom Verlag der Universität Yale herausgegeben. Die Absatzzahlen waren sehr überschaubar.

Ein weiterer zufälliger Twist der Geschichte: Cass Sunstein und seine irischstämmige Frau Samantha Power heiraten 2008 in Irland. Thaler ist natürlich eingeladen, und weil es gerade passt, nimmt er eine Einladung an, das Buch Nudge vor britischen Politikern der Konservativen Partei vorzustellen. Rohan Silva hat diese Vorstellung organisiert, empfiehlt Nudge dem späteren Premierminister David Cameron, der es wiederum seinem Stab als Sommerlektüre nahelegt.

Als die Tories 2010 an die Regierung kommen, wird ein kleines Team von sieben Personen ins Leben gerufen, das sich dieser Inhalte annehmen soll: das Behavioural Insights Team – kurz BIT (das meist aber nur als Nudge-Unit bezeichnet wird). Der Leiter ist David Halpern.

Der Auftrag des BIT – dem Thaler dann auch weiterhin beratend zur Seite stand – lautet:

  • In mindestens zwei Politikbereichen wichtige Veränderungen anzustoßen,
  • regierungsweit Verständnis für verhaltensorientierte Ansätze schaffen und
  • die Kosten des BIT durch Interventionen oder Einsparungen mindestens 10-fach zu amortisieren.

Die Latte hing also recht hoch.

Aber schon die erste Intervention erbrachte einen Brutto-Rücklauf von 9 Mio. Pfund innerhalb von 23 Tagen. Die Intervention bestand in der Umformulierung von Mahnschreiben an säumige Steuerzahler. Die erfolgreichste von mehreren getesteten Varianten lautete (übersetzt und etwas verkürzt): “Die meisten Menschen zahlen, und Sie sind einer der wenigen, die dies nicht getan haben”.

Die erste Evaluation des BIT verlief entsprechend positiv. BIT ist inzwischen ein Teil der Innovationsstiftung Nesta (einem Shareholder seit 2014). Für BIT arbeiten inzwischen 250 Personen, der Jahresumsatz liegt bei 20 Millionen Pfund. Seit seiner Gründung hat BIT mehr als 400 randomisierte und kontrollierte Studien (RCTs) durchgeführt. Internationale Außenstellen von BIT sind unter anderem in den USA, Kanada, Australien zu finden.

Inzwischen erfährt die Idee eine globale Entwicklung. Viele, viele andere Länder der Welt haben entsprechende Teams gegründet, die sich darum kümmern, dass politische Interventionen so gestaltet werden, dass Menschen sie nachvollziehen können. Benutzer-zentrierte Politik-Gestaltung.

Das Problem an der Stelle ist genau der Begriff, der ursprünglich zu dieser unglaublichen Dynamik mit beigetragen hat: Nudge. Trotz der Theorie, die sich inzwischen um den Begriff entwickelt hat, ist der Fokus für die Tätigkeiten der “Nudge-Unit” deutlich zu schmal.

Die Tätigkeit dieser Agenturen geht weit über bloßes Nudging hinaus. Der vielleicht etwas sperrige Begriff “behavioural insights” (kurz BI) trifft es da besser – wenn auch nicht völlig. Allerdings nimmt genau diese Bezeichnung inzwischen Fahrt auf und wird ihrerseits zum stehenden Begriff. Eine gut lesbare Einführung und Übersicht bietet das handliche Buch “Behavioral Insights” von Michael Hallsworth und Elspeth Kirkman (Hallsworth & Kirkman, 2020). Den Autor:innen ist sehr daran gelegen, die im Vergleich zum Nudging größere Breite von BI darzustellen.

Nach dem Selbstverständnis der Autor:innen, von denen Hallsworth selbst seit Gründung im BIT mitwirkt, nutzt “[t]he behavioral insights approach […] evidence of the conscious and nonconscious drivers of human behavior to address practical issues.” (Hallsworth & Kirkman, 2020, S. 21)

Zusammen mit der Grafik rechts werden so die Schwerpunkte dieses Selbstverständnisses klar: Hier geht es um nachweis- und verhaltensorientiertes politisches Arbeiten, dessen Erfolg und Nutzen stetig überprüft werden muss.

Der Fokus liegt auf realen Settings, auch wenn manchmal die Basis für Interventionen Erkenntnisse bilden, die in Laborexperimenten gewonnen worden sind. Evaluation insbesondere solcher Maßnahmen ist wichtig, da hier die externe Validität, also die Generalisierbarkeit auf andere Personengruppen oder andere situative Umstände, problematisch sein kann.

Der Goldstandard für die Evaluation von Politikinterventionen sind daher auch randomisierte kontrollierte Studien – RCTs.

Die 2x3-Felder-Darstellung illustriert ganz gut die gegenüber reinem Nudging breitere BI-Perspektive: Der Werkzeugkasten umfasst neben den Nudge-Instrumenten, von denen links an der horizontalen Achse stellvertretend Informationen gezeigt werden, auch Anreize sowie rechtliche und regulative Aktivitäten (also die oft zitierten Mandates & Bans – Gebote und Verbote).

Hallsworth & Kirkman bringen noch eine zweite Dimension in die Diskussion: den zeitlichen Aspekt; hier entlang der vertikalen Achse dargestellt. So sind manche Interventionen zeitlich befristet und haben dadurch auch ein nur geringes Ausmaß. Sie werden hier als taktisch bezeichnet. Andere sind längerfristig angelegt und haben dadurch auch eine breitere Wirkung. Sie werden hier als strategisch bezeichnet.

Die erste BIT-Intervention, die Mahnschreiben umformuliert hat, wäre nach diesem Schema links unten einzuordnen, eine rechtlich verbindliche Vorschrift für Organisationen, eine Art Save-More-Tomorrow umzusetzen entsprechend rechts oben.

Selbst wenn der BI-Ansatz, wie auch das Nudging, seinen Ursprung in der Gestaltung von politischen Interventionen hat, sollten wir uns bewusst machen, dass hier die Welt der Firmen und Organisationen inzwischen nachgelegt hat. BI-Teams gibt es inzwischen nicht nur in Regierungen und Behörden. Die Tatsache, dass es inzwischen das Berufsbild des Chief Behavioral Officers kurz CBO gibt, zeigt, dass auch privatwirtschaftlich erkannt worden ist, dass verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse auch hier genutzt werden sollten 16.

Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema, das für uns erstmal breit genug ist: dem Nudging – spezieller: einem kurzer Abschnitt, der vor allem die Fragen klären soll, warum wir uns überhaupt mit Nudging beschäftigen sollten – und was typische Missverständnisse sind, wenn die Rede auf Nudging kommt.

Literatur

Hallsworth, M., & Kirkman, E. (2020). Behavioral insights. MIT Press.
Sunstein, C. R., & Thaler, R. H. (2003). Libertarian paternalism is not an oxymoron. The University of Chicago Law Review, 1159–1202.

  1. In der Zwischenzeit gibt es sogar ein Buch gleichen Titels, das wohl eher dem Werbe-/Marketing-Bereich zuzuordnen ist. Leider macht es auch das Googeln nach “Chief Behavior Officer” schwerer↩︎