Abschnitt 7 Institutionalisierung des Grundrechtsschutzes: Die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht
7.1 Wiederholung
7.2 Statistik: Dominanz der VB unter den Verfahrensarten des BVerfG
7.3 Grundlagen der VB
Verfassungsrechtliche Grundlage:
Art. 93 GG. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet
[…]
- über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein […]
Ausgestaltung und detaillierte Voraussetzungen: §§ 90-94 BVerfGG (sorgfältig lesen!)
- Ursprünglich nicht verfassungsrechtlich, sondern nur im BVerfGG vorgesehen
- Unsicherheiten im Parlamentarischen Rat über Verhältnis der VB zum allgemeinen Rechtsschutzsystem
- Als Teil der Notstandsgesetze 1968 konstitutionalisiert
- Paradox des Erfolges: Überlastung und Überforderung des Bundesverfassungsgerichts?
- Geschichte der Abänderungen der §§ 90 BVerfGG als Geschichte der Eindämmung der Verfassungsbeschwerden
7.4 Funktionen der VB
7.4.1 Rechtsschutz
- Rechtsschutzfunktion hinsichtlich der in Art. 93 I Nr. 4a GG genannten Rechte - Aber: kein “allgemeines” Rechtsschutz-, sondern ein besonderes Grundrechtsschutzverfahren
- Kein Rechtsmittel, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf (–> kein Suspensiveffekt, kein Devolutiveffekt): BVerfG ist keine „Superrevisionsinstanz“
- Konsequenz: Rechtswegerschöpfung: § 90 II 1 BVerfGG
7.4.2 Fortbildung des Verfassungsrechts
Folge dieser Sonderstellung ist die Verselbständigung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der allgemeinen Justiz. Parallel: Sonderstellung der Verfassungsauslegung
–> Methodische Verselbständigung der Grundrechtsgerichtsbarkeit –> Bindungswirkung über den Fall hinaus: §§ 95 I, 31 BVerfGG; das ist anders als bei allen anderen Gerichten!
7.4.3 Politische Funktionen
- VB als Rückkoppelungsschleife zwischen politischem Prozess und den Betroffenen
- BVerfG als Staatsorgan in der Rolle eines Anwalts der Bürgerinnen („Bürgergericht“)
- Sonderstellung der Grundrechte als „Rechte zwischen Recht und Moral“
- Kommunikative Funktion der VB
7.5 Subsidiarität, § 90 BVerfGG
Regelung:
§ 90 Abs. 2 BVerfGG. Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde.
Formell: Andere prozessuale Möglichkeiten müssen ausgeschöpft sein, auch wenn der Streitgegenstand ein anderer ist (Strafrecht/Verwaltungsrecht).
Materiell: Kein neuer Tatsachenvortrag im Verfahren der VB (man kann dem BVerfG nichts erzählen, was man nicht schon den Instanzgerichten erzählt hat!)
- In der Praxis sind die Anforderungen extrem streng
- Subsidiarität gegenstandslos bei Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze, da es gegen Gesetze keinen Rechtsweg gibt (Bindung der Rechtsprechung an das formelle Gesetz; Verwerfungsmonopol des BVerfG)