Abschnitt 4 Auslegung der Grundrechte: Schutzbereiche

4.1 Wiederholung und Einstieg

Textanalyse der Versammlungsfreiheit: die einzelnen Aussagen des Art. 8 GG; “Versammlungen” als allgemeines soziales Phänomen und als politische Praxis; spezifische Gefährdungen der Versammlungsfreiheit (Sinn des Grundrechts)

Worum geht es heute?

Juristische Struktur von Grundrechten kennenlernen - Das Objekt der Freiheit (“Schutzbereich”, “Grundrechtstatbestand”, “Gewährleistungsbereich”) - Probleme der Auslegung von Grundrechten

Zur Nachbereitung: (Sachs 2017, S. 38–42, 115–126)(Epping et al. 2019, Kap. 2)

Extra-Lektüre für Interessierte: Böckenförde (1976).

4.2 Der Schutzbereich des (Freiheits-)Grundrechts der Versammlungsfreiheit

4.2.1 Vorüberlegung: Allgemeine Struktur von Rechtsnormen (Konditionalschema)

4.2.2 Unanwendbarkeit des Konditionalschemas bei Grundrechtsnormen

  • offene Begriffe im Tatbestand (“friedlich”)
  • keine juristisch strenge Rechtsfolge (“haben das Recht”): Es ist klar, dass dieses Recht nicht unter allen Umständen besteht, sondern nur im Grundsatz (z.B. nicht in einer fremden Wohnung usw.).
  • Wichtigster Grund: Gegenstand der Grundrechtsnorm ist eine Freiheit; Freiheit entzieht sich aber einer eindeutigen Festlegung in Form eines präzisen Tatbestands: Was für die eine wesentlicher Inhalt der Freiheit ist: an Versammlungen teilnehmen, ist für den anderen gerade im Gegenteil das Fernbleiben von jeglicher Versammlung.
  • Wenn der Inhalt der Freiheit durch einen Rechtssatz normativ abschließend festlegbar wäre, wäre es keine Freiheit (bei der Versammlungsfreiheit ist das noch vergleichsweise leicht, aber denken Sie an “Würde des Menschen” oder “freie Entfaltung der Persönlichkeit”.
  • Wären Grundrechte rein moralische Rechte, könnte man es deswegen dabei bewenden lassen, dass über den Inhalt der Freiheit nur der Freie entscheiden kann.
  • Aber: Im Recht muss entschieden werden, und zwar verbindlich: juristische “Auslegung” von Grundrechten daher unvermeidbar.

4.3 Bestimmung des Schutzbereichs

  • Begriffe sind schwankend (Schutzbereich, Normbereich, Gewährleistungsbereich, Regelungsbereich - hängt mit den soeben besprochenen Problemen zusammen)

  • Allgemein: diejenigen Handlungen, sozialen Beziehungen oder Verhaltensweisen, die das GR “meint”, die also sprachlich von der Norm erfasst sind. Das ist nur scheinbar trivial.

4.3.1 Schritt 1: Auslegung der die Freiheit umschreibenden Begriffe

Was ist eine Versammlung?

Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG sind örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.

BVerfGE 104, 92[104]


Sind evtl. bestimmte Form nicht erfasst?

“Dies ist jedenfalls dann hinzunehmen, wenn der Versammlungsbegriff eng gefasst wird. Volksfeste und Vergnügungsveranstaltungen fallen unter ihn ebenso wenig wie Veranstaltungen, die der bloßen Zurschaustellung eines Lebensgefühls dienen oder die als eine auf Spaß und Unterhaltung ausgerichtete öffentliche Massenparty gedacht sind, einerlei, ob der dort vorherrschende Musiktyp ein Lebensgefühl von so genannten Subkulturen ausdrückt oder dem Mehrheitsgeschmack entspricht.”

(BVerfG, Beschluss vom 12.7.2001 - 1 BvQ 28/01 und 1 BvQ 30/01, Loveparade, Fuckparade, Rdnr. 18)

“Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit erhält seine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes wegen des Bezugs auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe die Bedeutung eines grundlegenden Funktionselements. Das Grundrecht gewährleistet insbesondere Minderheitenschutz und verschafft auch denen Möglichkeiten zur Äußerung in einer größeren Öffentlichkeit, denen der direkte Zugang zu den Medien versperrt ist.”

(a.a.O.,Rdnr. 16)

Über die Problematik dieser Auslegung hatten wir letzten Mittwoch schon gesprochen.

Wann ist eine Versammlung “friedlich”?

Art. 8 GG schützt die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe bis zur Grenze der Unfriedlichkeit. Die Unfriedlichkeit wird in der Verfassung auf einer gleichen Stufe wie das Mitführen von Waffen behandelt. Unfriedlich ist eine Vesammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen.

— BVerfGE 104, 92 [105 f.]

Was macht das BVerfG hier? Es entwickelt Definitionen, als Konkretisierungen.1

Im Falle der Versammlungsfreiheit ist das vergleichsweise leicht, weil Versammlung ein äußerer Vorgang ist, eine soziale Realität hat (trotzdem sind - wie Sie sehen werden - diese Definitionen des BVerfG keineswegs unzweifelhaft). Überlegen Sie sich mal eine Definition für einen Schutzbereichsbegriff wie “Religion” (Art. 4 GG) oder “Eigentum” (Art. 14 GG)!

Sie sehen aber schon an der Auslegung von Art. 8 Abs. 2 GG, dass es ganz schön verzwickt sein kann. Was heißt “unter freiem Himmel”? Natürlicher Wortsinn: wenn ich nach oben schaue und den Himmel sehen kann, bin ich unter freiem Himmel. Oder?

Lesen Sie:

“Der Begriff der „Versammlung unter freiem Himmel” des Art. 8 Abs. 2 GG darf nicht in einem engen Sinne als Verweis auf einen nicht überdachten Veranstaltungsort verstanden werden. Sein Sinn erschließt sich vielmehr zutreffend erst in der Gegenüberstellung der ihm unterliegenden versammlungsrechtlichen Leitbilder: Während „Versammlungen unter freiem Himmel" idealtypisch solche auf öffentlichen Straßen und Plätzen sind, steht dem als Gegenbild die Versammlung in von der Öffentlichkeit abgeschiedenen Räumen wie etwa in Hinterzimmern von Gaststätten gegenüber. Dort bleiben die Versammlungsteilnehmer unter sich und sind von der Allgemeinheit abgeschirmt. Demgegenüber finden Versammlungen „unter freiem Himmel" in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit einer unbeteiligten Öffentlichkeit statt."

— Arbeitskreis Versammlungsrecht, Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, Enders/Hoffmann- Riem/Kniesel/Poscher/Schulze-Fielitz [Hrsg.], 2011, Begründung zu § 10, S. 34.

Will heißen: Der freie Himmel ist gerade nicht das Entscheidende, sondern die fehlende seitliche Begrenzung. (Sicher denken Sie sich, warum das so ist: Nur die fehlende Begrenzun bewirkt bestimmte Gefahren - Zugangskontrolle, Gegendemonstrationen usw. -, die die weitergehende EInschränkung rechtfertigen)

4.3.2 Schritt 2: Zuordnung zu einem Grundrechtsträger (der subjektive Grundrechtstatbestand)

Schon komplizierter: Die Freiheit, von der das GR spricht, gilt nicht der “Versammlung”, sondern den Menschen, die “sich versammeln”.

Prüfung: Fällt die Person, die sich im konkreten Fall auf ein Grundrecht beruft, in den persönlichen Schutzbereich?

4.3.2.1 Allgemeine Grundrechtsberechtigung

Unterscheidung innerhalb der Grundrechte

Menschenrechte

Art. 1-6, 10, 13, u.v.m. Manchmal ausdrücklich (“Jeder”, Art. 5 Abs. 1 GG), manchmal implizit (“Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.”)

Bürgerrechte

Immer dann, wenn es eine ausdrückliche Beschränkung auf “Deutsche” gibt.

Beispiele: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit und Berufsfreiheit, Grundrecht der Staatsangehörigkeit.

Begründung:

  • Schutz des aktiven Bürgerstatus, nicht nur der Existenz und Integrität der Person als solcher
  • Konstituierung der politischen Gemeinschaft durch Rechte

Einschränkung:

Für Bürger der anderen EU-Mitgliedstaaten verbietet Art. 18 AEUV jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Folge: Alle Unionsbürger können sich ohne weiteres auf alle Bürgerrechte berufen.

Nicht berufen können sich nur Drittstaatsangehörige.

Juristische Personen

Art. 19 Abs. 3 GG erweitert den Schutzbereich auf juristische Personen, sofern das Grundrecht „seinem Wesen nach" auf sie anwendbar ist.

Beispiel zur Versammlungsfreiheit: Ein politischer Verein (NGO), die eine Versammlung durchführt, kann sich auf Art. 8 GG berufen.


4.3.2.2 Persönlicher Schutzbereich (“personeller Grundrechtstatbestand”)

Frage: Ist die jeweilige Person in ihrem konkreten Verhalten von der Schutzwirkung des Grundrechts umfasst.

Beispiel: Potenzielle Teilnehmer*innen an Demonstrationen fallen in den persönlichen Schutzbereich, Schaulustige, die die Demo nur photographieren wollen, hingegen nicht.

Anmerkung: Im Fall der VersFr ist diese Unterscheidung unproblematisch möglich, bei anderen GRen nicht, z.B. sind bei der “körperlichen Unversehrtheit” sachlicher und persönlicher Schutzbereich eins.

4.4 Einige Grundprobleme der Auslegung von Grundrechtsnormen

  • Allgemeine Regeln (canones) der Auslegung gelten zunächst auch für Verfassungsnormen, aber sie sind in der Regel nicht ergiebig

  • Verfassungsrecht ist nicht systematisch, sein Wortlaut ist i.d.R: eine politische Proklamation und nicht für die juristische Auslegung gemacht usw.

  • Politisch-soziale Vorverständnisse spielen unweigerlich in die Auslegung mit hinein (hierzu ein berühmter Text eines der berühmtesten Verfassungsrichter der Bundesrepublik, Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019), den ich den Interessierten zum Nachlesen empfehle; steht auf StudIP: (Böckenförde 1976)).

4.4.1 Subjektive, objektive oder “dynamische” Grundrechtsauslegung

Was ist das Ziel der Grundrechtsauslegung? Klassischer Streit wie bei der Gesetzesinterpretation:

Subjektive Auslegung: historischer Wille des Verfassunggebers ist zu ermitteln (was hat der Parlamentarische Rat 1948/9 unter einer Versammlung verstanden?). Argument: Autorität der verfassunggebenden Gewalt; keine hinreichende Legitimation der Verfassungsinterpretation und des BVerfG, durch Auslegung den verbindlichen Gehalt der Rechtsnormen abzuändern.

Objektive Auslegung: nicht der subjektive Intention, sondern objektive Bedeutung (“Die Verfassung ist klüger als die verfassunggebende Gewalt.”)

Führt insbesondere bei Grundrechten kaum zu überzeugenden Ergebnissen.

“Dynamische Auslegung”

Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung ist es, die verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm, insbesondere eines Grundrechts, zu erschließen. Dabei ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, „die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet".

BVerfGE 6, 55 (72)

Klingt hochtrabend und kompliziert, ist aber simpel: Freiheit bedeutet in unterschiedlichen Gesellschaften und zu unterschiedlichen Zeiten etwas je anderes; bliebe die Interpretation bei der Bedeutung von 1949 stehen, hieße das: Effektiv wird das “konservative” Freiheitsverständnis, das dem des Jahres 1949 entspricht, privilegiert.

Beispiele:

  • neue Formen von Versammlungen (Loveparade, flashmobs, Online-Versammlungen?), aber auch
  • gleichgeschlechtliche Ehe (1949 sicher subjektiv nicht gemeint und vor Einführung der “Ehe für alle” auch nicht vom objektiven Wortsinn erfasst)
  • geistiges Eigentum an Daten
  • ästhetische Praxen jenseits der traditionellen Kunstformen (performance, conceptual art, etc. etc.): eine Kunst, die sich begrifflich festlegen lässt, ist nicht frei.
  • etc.

Verfassungsvergleichende Auslegung

  • Methode: Berücksichtigung der Rechtsprechung anderer Verfassungsgerichts bei der Auslegung von Grundrechten
  • Zunehmende Bedeutung
  • Freiheitstheoretische Rechtfertigung: Interpretationswandel indiziert Wandel von Freiheitsverständnissen und Schutzbedarfen
  • Problem: Ablösung der Interpretation vom Verfassungstext; Verselbständigung der Verfassungsgerichtsbarkeit

4.4.2 Auslegungsmethoden des BVerfG

4.4.3 Exkurs: Originalism-Kontroverse im amerikanischen Verfassungsrecht

Verfassungsauslegung in Deutschland nicht sehr umstritten (hohe Akzeptanz des BVerfG). Anders in den USA. Seit Jahrzehnten erbitterte methodische Kontroverse um Auslegung von Grundrechten.

  • Originalism (zwei Spielarten: original intent und original meaning): Maßgebende methodische Position der derzeitigen konservativen Mehrheit beim Supreme Court zu vielen politisch äußerst umstrittenen Fragen (Waffenbesitz, Wahlkampffinanzierung). Starke Ablehnug von verfassungsvergleichenden Argumenten (American exceptionalism im Verfassungsrecht).

    “It is in no way remarkable, and in no way a vindication of textual evolutionism, that taking power from the people and placing it instead with a judicial aristocracy can produce some creditable results that democracy might not achieve. The same can be said of monarchy and totalitarianism. But once a nation has decided that democracy, with all its warts, is the best system of government, the crucial question becomes which theory of textual interpretation is compatible with democracy. Originalism unquestionably is. Nonoriginalism, by contrast, imposes on society statutory prescriptions that were never democratically adopted.” Scalia und Garner (2012)

  • Living Constitutionalism: Die (progressive, liberale) Gegenauffassung, wonach die Verfassung ein sich entwickelnder, “lebendiger” Text ist, dem mit der Zeit neue Bedeutungen als Ergebnis sozialer, normativer, kultureller, sprachlicher, institutioneller oder ökonomischer Veränderungen zuwachsen können.

    To remain faithful to the content of the Constitution, therefore, an approach to interpreting the text must account for the existence of the substantive value choices and must accept the ambiguity inherent in the effort to apply them to modern circumstances. The Framers [d.h. die Gründungsväter der Verfassung] discerned fundamental principles through struggles against particular malefactions of the Crown [d.h. die englische Kolonialmacht]: the struggle shapes the particular contours of the articulated principles.But our acceptance of the fundamental principles has not and should not bind us to those precise, at times anachronistic, contours.

    (Justice William J. Brennan, 1986)

Wer sich über diese “great debate”, die weit über Amerika hinaus rezipiert worden ist und die Grundrechtstheorie geprägt hat, in aller Kürze informieren will, kann das zum Beispiel in diesem Blogpost tun (dort weitere Links).

4.4.4 Überlagerungen I: juristische und moralische Bedeutungsgehalte

  • Grundrechte sind einerseits Rechtsnormen, die von Gerichten durch professionell geschulte Jurist*innen angewandt und durchgesetzt werden.

  • Grundrechte sind aber auch moralische Forderungen, Postulate der Ethik: das Recht, nicht wegen der Teilnahme an einer Versammlung willkürlich verhaftet zu werden, erschöpft sich nicht in seinem Rechtscharakter, sondern hat zugleich einen moralischen Grund: Integrität der Persönlichkeit, Schutz vor Gewalterfahrung.

Diese beiden Ebenen nicht sauber zu trennen. Moralische Fragen spielen unweigerlich in Grundrechtsauslegung hinein. Manchmal sind sie sogar die ganz dominierende Frage der Grundrechtsauslegung.

Beispiel:

“Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (…) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. (…) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.”

—BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 (Recht auf Sterbehilfe)

Kann man hier von einem juristischen Argument sprechen, das sich in irgendeiner Weise von einem moralischen Argument unterscheidet?

4.4.5 Politische Vorverständnisse in der Grundrechtsauslegung

  • Verfassungsrecht ist politisches Recht, Auslegung von Verfassungsrecht berührt immer politische Fragen, hat politische Folgen

  • Gilt insbesondere für Grundrechte: GRe transportieren stets Vorannahmen über politische Fragen:

Beispiel 1 (Was ist öffentlich? Was ist politisch? Wie politisch ist der Techno der 1990er Jahre?):

"Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit erhält seine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes wegen des Bezugs auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe die Bedeutung eines grundlegenden Funktionselements. Das Grundrecht gewährleistet insbesondere Minderheitenschutz und verschafft auch denen Möglichkeiten zur Äußerung in einer größeren Öffentlichkeit, denen der direkte Zugang zu den Medien versperrt ist.

Dies ist jedenfalls dann hinzunehmen, wenn der Versammlungsbegriff eng gefasst wird. Volksfeste und Vergnügungsveranstaltungen fallen unter ihn ebenso wenig wie Veranstaltungen, die der bloßen Zurschaustellung eines Lebensgefühls dienen oder die als eine auf Spaß und Unterhaltung ausgerichtete öffentliche Massenparty gedacht sind, einerlei, ob der dort vorherrschende Musiktyp ein Lebensgefühl von so genannten Subkulturen ausdrückt oder dem Mehrheitsgeschmack entspricht." "

BVerfG, Beschluss vom 12.7.2001 - 1 BvQ 28/01 und 1 BvQ 30/01, Rdnr. 16, 18 (Loveparade, Fuckparade)

Beispiel 2 (Funktionale Bedeutung des Grundrechts für den Bürger*innen-Begriff):

“Art. 8 GG begründet ein Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt. Dem Grundrecht gebührt in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang. Das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht.” BVerfGE 69, 315 (343)

4.4.6 Folgerungen

Fehlt deswegen dem Verfassungsrecht und der Grundrechtsauslegung der streng wissenschaftliche Charakter? Ist Verfassungsauslegung willkürlich?

  • Gegenüberlegung: Ist die Auslegung des Zivilrechts unpolitischer? Der Mythos der meisten Zivilrechtler hätte es natürlich gerne so. Kaum richtig. Es sei denn, man hält Verträge, Eigentum, Märkte, Schadensersatz usw. (kurz: den Kapitalismus) nicht für etwas Politisches. So etwas sollten Sie gar nicht erst anfangen zu glauben. Noch mehr gilt das für das Strafrecht: Was in einer Gesellschaft betraft wird, ist sogar eine ihrer grundlegendsten politischen Fragen.

  • Folge: Recht ist immer politisch, weil es mit Phänomenen der Macht zu tun hat: mit ihrer Begründung, Ausübung, Kontrolle, ihrer Beschränkung usw.

  • Deswegen aber nicht unwissenschaftlich, im Gegenteil. Unwissenschaftlich ist es nur zu ignorieren, dass es diese Vorverständnisse gibt. Richtig dagegen: Vorverständnisse explizit machen und zum Gegenstand der Kritik. Rechtswissenschaft ist also immer auch: Kritik der Praxis. Sich Rechenschaft ablegen über eigene und fremde Vorverständnisse. Durch Arbeit an Texten und ihren (wechselnden) Interpretation - man nennt das: “juristische Hermeneutik”, also die Kunstlehre des richtigen Verstehens von Texten (Gadamer 1960) - sein eigenes Verständnis verbessern und Distanz gegenüber den eigenen Vorverständnissen gewinnen. Dafür ist gerade die Grundrechtsinterpretation eine exemplarische Schulung.


  1. Wenn Sie die Formulierung in § 2 NdsVersG noch in Erinnerung haben, werden Sie merken, dass der Gesetzgeber diese Definition des BVerfG hier übernommen hat.↩︎