Abschnitt 2 Einführung: Was sind Grundrechte?

2.1 Worum geht es heute?

  • Einstieg: Was sind Grundrechte?
  • Gliederung und Aufbau der Vorlesung
  • Hinweise zur Arbeitsweise
  • Literaturhinweise
  • BKs und Vorlesung

2.2 Einstieg: Demokratie und Grundrechte

Im Wintersemester: Staatsrecht I = Institutionelles Verfassungsrecht - worum ging es? Demokratie, d.h. kollektive Selbstbestimmung in rechtlicher Form, politische Freiheit in einem demokratischen Gemeinwesen.

Wir hatten Grundrechte bereits gestreift:

  • Frage der Rechtfertigung von Herrschaft (Bedeutung der Verfassung)
  • Rechtsstaatsprinzip

Demokratie und Grundrechte hängen also zusammen in den zwei Seiten der Freiheit: kollektive und individuelle Freiheit, kollektive und individuelle Selbstbestimmung, kollektive und individuelle Gleichheit usw.

Warum? Mensch ist immer beides zugleich: Ein Individuum und ein Gattungswesen, auch unsere politische und rechtliche Existenz geht nie in dem einen oder in dem anderen auf. Verfassungsrecht greift dies sinnfällig auf: zu modernen Verfassung gehören nicht nur Bestimmungen über Institutionen, sondern auch Grundrechte.

Was also sind Grundrechte? Schwierig, einen allgemeinen Begriff zu bilden, der für alle Grundrechte gilt. Allgemeine Erklärungen à la “Grundrechte sind Rechte gegen den Staat” oder “Grundrechte sind besonders wichtige Individualrechte” sind immer zugleich halbrichtig und halbfalsch. Deswegen: Annäherung an GRe über ihre äußere Form, die Deklarationen bzw. Kataloge.

2.3 Die äußere Form von Grundrechten: Deklarationen, Kataloge

2.3.1 Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776)

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. The declaration was made to create equal rights for every person (…).

2.3.2 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789)

Art. 1er. Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.

Art. 2. Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’Homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté, et la résistance à l’oppression.

Art. 3. Le principe de toute Souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d’autorité qui n’en émane expressément.

(…)

📖 Deutsche Übersetzung

2.3.3 Die Bill of Right (1791) - die ersten Zusätze zur Amerikanischen Verfassung

  1. Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.
  2. A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.
  3. (…)

2.3.4 Die Grundrechte des Grundgesetzes (1949)

📖 Originaltext

2.3.5 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000)

Text der Charta auf der Website des Europäischen Parlaments

2.4 Allererste Vermutungen über Grundrechte nach diesen wenigen Beispielen

Wenn man diese Erklärungen, Kataloge und Proklamationen analysiert, stößt man sofort auf einige sehr bemerkenswerte Widersprüche oder “Paradoxien” der Grundrechte

  • Grundrechte verheißen Freiheit, Gleichheit und sozialen Fortschritt, sind aber zumeist in historischen Phasen äußerster historischer Gewalt proklamiert worden.
  • Grundrechte wurden gewaltsam erkämpft (revolutionär), gelten aber für eine spätere friedliche Ordnungen und müssen in diesen mit friedlichen Mitteln gesichert werden.
  • Grundrechte sind universell formuliert, aber schützen häufig nicht einfach alle (nur Männer, nur Staatsbürger usw.)
  • Grundrechte garantieren vieles, was moralisch kaum in Frage steht (Recht auf Leben, Meinungsfreiheit) aber auch Freiheiten, bei denen das nicht so eindeutig ist (right to bear arms; Erbrecht)
  • Grundrechte sind universell formuliert, aber vor allem die Privilegierten können von ihnen Gebrauch machen (Eigentumsschutz, Freiheit der Berufswahl, Presse- und Wissenschaftsfreiheit)
  • Grundrechte sind als “ewige” Rechte formuliert, aber offensichtlich historisch veränderbar (1791: Right to bear arms; 1949: Grundrecht unehelicher Kinder auf Gleichstellung; 2016: Europäische Charta der Digitalen Grundrechte)
  • Grundrechte sind indikativ formuliert (“… ist unverletzlich.”), rechnen aber gerade mit Unrecht und Verletzung.
  • Grundrechte stehen “über” dem Gesetz und binden den Gesetzgeber, aber Freiheit, Gleichheit und Solidarität gibt es nicht ohne eine Rechtsordnung, sondern nur in ihr (implizite Anerkennung: Gesetzesvorbehalte).
  • Grundrechte sind nicht nur “Recht”, sondern zugleich moralische Forderungen

2.4.1 Jeremy Benthams Verdacht

Jeremy Bentham, der Begründer des Utilitarismus und einer der größten Gesellschaftstheoretiker zur Zeit der Französischen Revolution, sah das ganz anders:

In proportion to the want of happiness resulting from the want of rights, a reason exists for wishing that there were such things as rights. But reasons for wishing there were such things as rights, are not rights; – a reason for wishing that a certain right were established, is not that right – want is not supply – hunger is not bread. That which has no existence cannot be destroyed – that which cannot be destroyed cannot require anything to preserve it from destruction. Natural rights is simple nonsense: natural and imprescriptible rights, rhetorical nonscnse, – nonsense upon stilts. But this rhetorical nonsense ends in the old strain of mischievous nonsense for immediately a list of these pretended natural rights is given, and those are so expressed as to present to view legal rights. And of these rights, whatever they are, there is not, it seems, any one of which any government can, upon any occasion whatever, abrogate the smallest particle.

— Bentham, Anarchical Fallacies, in Works, Vol. 2, 1853.

Folgefragen:

  • Warum gewähren wir Grundrechte statt konkrete Verbesserungen auf politischem Wege zu erreichen?
  • Warum gibt es ein Grundrecht auf etwas so Abstraktes wie “freie Berufsausübung”, aber kein Grundrecht auf Nahrung, Wohnung, Kleidung?

2.4.2 Karl Marx’ Vermutung

Eine ganz andere Kritik an Grundrechten formulierte etwa Karl Marx, einer der Begründer des Sozialismus:

  • Grundrechte sind nichts Unpolitisches, sie schützen nicht nur den Einzelnen “vor” etwas (also nicht nur das Individuum vor Unterdrückung)
  • Grundrechte zerstören gleichzeitig kollektive Gemeinschaften und machen ihre Mitglieder überhaupt erst zu freien Individuen
  • Grundrechte als individuelle Rechte sind damit gleichzeitig das Organisationsprinzip einer Gesellschaft, die auf individueller Konkurrenz, Wettbewerb, Vertragsfreiheit und Eigentum beruht (d.h. des Kapitalismus)
  • Damit sind Grundrechte zugleich die Basis gesellschaftlicher Macht, die anders als politische Macht nicht demokratisch legitimiert ist (z.B. die Meinungsfreiheit von facebook, die Rundfunkfreiheit von RTL, das Eigentum eines Wohnungsbaukonzerns und einer AKW-Betreibergesellschaft)

Marx unverändert aktuelle Frage lautet daher: Welche Gesellschaftsform errichten Grundrechte?

2.5 Aufbau der Vorlesung

  • Wissen von Examenskandidat:innen von Grundrechten häufig äußerst dürftig. Warum ist das so? Es könnte etwas mit der Art zu tun haben, wie Grundrechte üblicherweise unterrichtet werden (wie, das sehen Sie, wenn Sie die üblichen Lehrbücher zur Hand nehmen): allgemeine Theorien über Grundrechte und dann eine Aneinanderreihung von Einzelrechten und jede Menge Fallbeispielen aus der Rechtsprechung dazu.

  • Die Fülle des Stoffes schließ es aus, alles zu behandeln macht ein selektives Prinzip notwendig: Entweder nur Abstraktionen (allgemeine Grundrechtstheorie) oder exemplarisches Vorgehen. Ersteres bliebe weitgehend blutleer und schwer verständlich, daher: exemplarisch.

  • Selektionskriterien: (1) Grundverständnis für die rechtlichen Eigenarten von Grundrechten; (2) Examensrelevanz; (3) Verständnis für politisch-soziale Fragen der Grundrechte (Grundrechte sind nichts nur Juristisches!)

  • Folge ist, dass ich ganz wesentliche Teile des Stoffes schlicht weglasse, namentlich

  • Justizgrundrechte und Rechtsschutzgarantie

  • Religionsfreiheit

  • Menschenwürde; Recht auf Leben; Persönlichkeitsrecht

  • politische Aktivrechte (Wahlrechte usw. –> Vorlesung Staatsrecht I)

Wenn Sie - so meine Hoffnung - die Dinge, die wir behandeln, wirklich durchdenken, dann wird sich Ihnen der Rest viel besser erschließen.

2.6 Vorläufige Gliederung der Vorlesung

  1. Einführung: Einleitende Hinweise zum Stoff der Vorlesung

TEIL EINS: Annäherungen an die Grundrechte am Beispiel der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)

  1. “Sich Versammeln”: als Form menschlicher Gesellschaft, als politisches Problem – und als Grundrecht
  2. Grundrechte als „Rechte" – was heißt das?
  3. Versammlungsfreiheit in anderen Verfassungen
  4. Ein dogmatisches Modell des Grundrechtsschutzes
  5. Die Institutionalisierung des Grundrechtsschutzes beim Bundesverfassungsgericht (Grundlagen des Rechts der Verfassungsbeschwerde)

TEIL ZWEI: Gleiche Freiheit

  1. Diskriminierungsverbote (Art. 3 Abs. 2 und 3 GG; Art. 21 GRCh; Art. 14 EMRK)
  2. Rechtsanwendungs- und Rechtsetzungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG)

TEIL DREI: Grundrechte und Wirtschaftsordnung

  1. Berufsfreiheit und Wirtschaftsregulierung
  2. Grundbegriffe des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes

TEIL VIER: Meinungsfreiheit, Öffentlichkeit und Kommunikation

  1. Grundlagen: Schutzbereich und Schranken der Meinungsfreiheit
  2. Insbesondere: Das Problem der Geltung von Grundrechten unter “Privaten”
  3. “Hate speech”, digitale Kommunikation, soziale Medien

ABSCHLUSS: Politische Dimensionen der Grundrechte

2.7 Hinweise zum Ablauf der Vorlesung

2.7.1 Stud.IP-Kurs

Bitte tragen Sie sich – sofern noch nicht geschehen – unbedingt mit Ihrem Uni-Account in den StudIP-Kurs ein. Einen Kursschlüssel brauchen Sie nicht. Dort ist auch der Link zum Zoom-Kursraum als Perma-Link hinterlegt.

2.7.2 Ablauf der Vorlesung

Wie im WS: In jeder Woche ein thematisch zusammenhängender Block. Jeder Wochenblock besteht dabei aus zwei Elementen.

  • Die Grundlagen des Stoffes erläutere ich in zwei 45-minütigen Podcasts, die in StudIP eingestellt werden und die Sie vor dem Besuch der wöchentlichen Vorlesung am Mittwoch um 12 Uhr angesehen haben sollten.

  • Jeden Mittwoch 12-14 Uhr ct gibt es eine Live-Veranstaltung auf Zoom, die ich - wie schon im Wintersemester - in unterschiedlicher Weise nutzen werde.

  • Stoff vertiefen

  • Fall der Woche

  • KLausurfälle

2.7.3 Vorbereitung der Vorlesung

Sie können die Vorlesung zusätzlich durch die Lektüre der angegebenen Abschnitte in den Lehrbüchern oder Aufsätze vor- oder nachbereiten und Ihr Wissen vertiefen.

Hierzu werde ich von Wochen zu Woche Hinweise geben.

Bitte nehmen Sie diese Hinweise ernst. Jura ist - wie mir ein Professor, von dem ich sehr viel gelernt habe, zu einem sehr großen Teil ein “Hosenbodenstudium”. Sie müssen gerade im öffentlichen Recht, wenn Sie vorankommen wollen, nicht nur irgendwelche kleinen “Wissenshäppchen” oder Prüfungsschemata lernen, sondern sich an die Lektüre zusammenhängender Texte (wissenschaftliche Aufsätze, Buchkapitel, Entscheidungen) gewöhnen.

Gerade während dieses dritten Corona-Semesters wird der vertiefenden eigenen Arbeit mit dem Lehrbuch eine außergewöhnlich große Bedeutung zukommen. Sie, die Sie während der Pandemie das Studium begonnen haben, lernen auf diese Weise schneller als alle Semester vor Ihnen zugleich die für das Staatsexamen und alle juristischen Berufe zentrale Technik des Selbststudiums.

2.7.4 Teilnahme an der Vorlesung

Zur Vorlesung müssen Sie parat haben

  • einen Stift, der schreibt

  • Papier zum Anfertigen von Notizen und zum Festhalten offener Fragen

  • eine aktuelle Textausgabe der Basistexte des Staats- und Verfassungsrechts (Nomos, C.F. Müller oder Beck).

    • Hinweis für die Erstsemester: Die Verlage bieten preiswerte Ausgaben an, welche Sie nehmen, ist ganz egal. Lassen Sie sich auf keinen Fall einen der teuren Loseblattordner („Sartorius") aufschwatzen.

    • Hinweis für alle zur Erinnerung: Ja, es gibt alle Gesetzestexte, die Sie brauchen, auch digital, aber nein, das reicht nicht. Schreiben Sie stattdessen Dinge, die Sie relevant finden, mit der Hand mit.Es gibt tausend Studien, die zeigen, dass man sich auf diese Weise am meisten merkt. Das gilt gerade auch dann, wenn man die Vorlesung pandemiebedingt digital aufnimmt.

    • Gefordert ist in erster Linie selbständiges Mitdenken. Die Details können Sie sich später anhand eines Lehrbuchs noch aneignen; wichtig ist mir zunächst, dass Sie die groben Linien und Zusammenhänge verstehen, und dass Sie lernen, über Fragen der Grundrechte eigenständig nachzudenken.

2.7.5 Vorlesung und BKs

Sinn der Vorlesung ist nicht die Einübung in der Technik der Falllösung.

Hierfür sind in erster Linie die Begleitkollegs gedacht, die Sie bitte unbedingt regelmäßig besuchen.

  • Die BKs und die Vorlesung sind thematisch nicht sonderlich gut aufeinander abgestimmt. Das ist nicht ideal, aber lässt sich trotz vieler Bemühen, daran etwas zu ändern, nicht anders organisieren.
  • In den BKs erlernen Sie die Klausur- und Falltechnik, in der Vorlesung sollen Sie dagegen die allgemeineren Fragen verstehen.

2.8 Hinweise zur Literatur

Ich werde zu jeder Vorlesungswoche die Folien (d.h. dieses in der Auszeichnungssprache RMarkdown geschriebene Skript), das den Gedankengang der Vorlesung, ggf. Hinweise zur Literatur und Rechtsprechung sowie besondere Hinweise zur Nachbereitung der Vorlesung enthält; je nach Zusammenhang auch ein wichtiges Prüfungsschema.

Natürlich empfiehlt es sich, parallel zur Vorlesung eines der für Anfangssemester geeigneten Lehrbücher zu den Grundrechten zu lesen, das Ihnen den Stoff so vermittelt, wie Sie ihn in der Klausur parat haben sollten.

2.8.1 Empfehlungen zu Lehrbüchern

Es gibt eine große Zahl von Lehrbüchern zu den Grundrechten. Hier sollten Sie sich halten an eines der folgenden zwei:

Der Klassiker Alternative 1 Alternative 2
Kingreen/Poscher, Grundrechte, 36. Aufl. 2020 Volker Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019 Michael Sachs, Grundrechte, 3. Aufl. 2017
  • Das klassische Lehrbuch zu diesem Gegenstand überhaupt (früher “Pieroth/Schlink”)

  • Dogmatisch sehr präzise

  • Umfassende Behandlung des Stoffes

  • Vielleicht eine Spur flüssiger zu lesen
  • Fängt ebenso wie diese Vorlesung mit der Versammlungsfreiheit an
  • Weitgehend theoriefrei
  • Kostenfrei im Netz der SUB
  • Relativ konventioneller Aufbau

  • Dogmatisch zuverlässig

  • Gut für die Klausurvorbereitung

  • Anspruchsvoll

Achtung: Die Verlage verdienen einen Haufen Geld damit, dass sie von den Lehrbüchern jedes Jahr eine “neue Auflage” drucken und Ihnen weismachen, ohne die darin enthaltenen allerneuesten Entscheidungen sei man völlig aufgeschmissen. Das ist gerade für Sie am Anfang aber Unfug. Zudem ändern sich bei den neuen Auflagen häufig nur einige Kommata. Sie können sich bedenkenlos auch eine frühere Auflage kaufen (nicht älter als fünf bis zehn Jahre), die Sie auf den gängigen Seiten wie Eurobuch für sehr wenig Geld finden können.

2.8.2 Ergänzende Lektüren

Juristische Lehrbücher - das werden Sie inzwischen schon bemerkt haben - sind leider häufig sehr langweilig und wenig geeignet, Ihnen den politischen, sozialen oder historischen Sinn der Dinge nahezubringen, mit denen Sie es da zu tun haben. Sie wissen aus der Vorlesung Staatsrecht I, dass ich großen Wert darauf lege, Ihnen nicht nur die Dogmatik, sondern eben auch die Kontexte, das Politisch-Soziale des Verfassungsrechts zu vermitteln. Das ist mit den konventionellen Lehrbüchern leider nur sehr bedingt möglich.

Ich werde Ihnen jedoch Woche für Woche einen didaktisch geeigneten Text online stellen, den ich Sie bitte nachzulesen.

Los geht es mit einem kurzen, aber besonders hervorragenden Text zu der Frage, was Grundrechte sind.

2.8.3 Verfassungsrecht ist „case law" - und Grundrechte sind es ganz besonders

Diejenigen, die im Wintersemester schon die Vorlesung Staatsrecht I gehört haben, wissen, dass Verfassungsrecht maßgeblich geprägt ist durch die Rechtsprechung des BVerfG.

Warum ist das so?

  • Knappheit des Wortlauts

  • Entwicklungsoffenheit der Verfassung

  • Soziale Dynamik

  • politische Machtfülle des BVerfG

Sie sollten sich daher so früh wie möglich daran gewöhnen, Entscheidungen des BVerfG im Original zu lesen und auf diese Weise ein Gespür für die Argumentationstechnik im Verfassungsrecht zu bekommen.

Wie geht das?

  • Es gibt jedenfalls die neueren Entscheidungen alle kostenlos im Internet (http://www.bverfg.de). Nachteil: Die Texte sind sehr lang, und die Lektüre bereitet gerade am Anfang Schwierigkeiten (erinnern Sie sich aber daran, was ich Ihnen im WS erklärt habe, wie man diese Entscheidungen liest. Das gilt auch für Entscheidungen zu den Grundrechten!)

  • Ein gutes Buch, in dem die Essenz der Rechtsprechung in systematischer Form präsentiert wird, ist: Christian Bumke/Andreas Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 7. Auflage 2019. Dieses Buch hat die SUB Göttingen im Campus Netz als ebook frei verfügbar.

  • Ein weiteres gutes Hilfsmittel sind die Ausbildungszeitschriften. Es gibt die JA, Jura, und die JuS. Es lohnt sich nachzusehen, was an Entscheidungen aus dem Gebiet der Grundrechte dort angedruckt ist, gerade weil die Entscheidungen dort auf das Wesentliche reduziert werden.

  • Außerdem werde ich in den StudIP-Kurs regelmäßig Original-Fälle einstellen, die ich Sie bitte zu lesen. Nochmals: Jura und speziell Verfassungsrecht beruht auf einer bestimmten Begriffs- und Argumentationstechnik, die Sie nur erlernen, wenn Sie sich durch Lektüre einen guten Fundus an Begriffen und Argumenten aufbauen.

2.9 Schluss

Sie sind immer noch im ersten Studienjahr (in Amerika heißt das freshmen) und stehen ganz am Anfang Ihrer juristischen Karriere! Ich wiederhole daher nochmal, was ich zu Beginn der VL im WS gesagt habe.

  • Es ist normal, dass Ihnen vieles zunächst unklar und rätselhaft ist.

  • Es ist normal, dass Ihnen die Probleme groß und Ihre Fähigkeiten und Ihr Wissen klein vorkommen.

  • Es ist normal, dass Ihnen die Kommilitoninnen und Kommilitonen vergleichsweise schlau und orientiert vorkommen (seien Sie sicher: das gilt auch umgekehrt!)

  • Fragen Sie, wenn Sie unsicher sind oder etwas nicht verstanden haben! Fragen Sie Ihre Kommilitoninnen, ihre BK-Leiter*innen, Ihre Professor*innen!

  • Fragen Sie mich am besten in oder nach der Vorlesung oder, wenn Ihnen etwas erst später einfällt, per E-Mail (siehe oben): Ich beantworte jede Mail mit einer ernstgemeinten Frage – wenn auch nicht immer am gleichen Tag. Versprochen!

2.10 Aufgabe bis nächste Woche

Zum Nachlesen

📖 Hasso Hofmann, Die Grundrechte 1789-1949-1989, NJW 1989, 3177 (PDF). Ein Aufsatz aus dem Jahr der Wiedervereinigung, in dem zuletzt in sehr grundsätzlicher Weise über die politische Bedeutung der Grundrechte nachgedacht wurde

Zur Vorbereitung auf nächste Woche müssen Sie sich nur ein paar Videos ansehen.

📽️ Bericht der Tagesschau vor 40 Jahren über die Demonstrationen in Brokdorf gegen das dortige AKW (bis 6:30)

📽️ Dokumentation über die Proteste in Belarus

📽️ Als die Arbeitslosigkeit in Spanien bei 26 % lag (nach der Pandemie liegt sie heute noch höher), veranstaltete ein kleines Orchester im Wartezimmer eines Madrider Arbeitsamtes eine Performance, um auf Spaniens wachsende Wirtschaftskrise aufmerksam zu machen.

📽️ ZDF-Dokumentation über die Pegida-Proteste in Dresden

Außerdem bitte ich Sie, sich mit den Lehrbüchern vertraut zu machen und sich für eines zu entscheiden, das Sie anschaffen, ausleihen oder ausdrucken (s.o.).