Abschnitt 17 Exkurs: Von den Freiheitsrechten zu den Schutzpflichten und zurück: Das Urteil des BVerfG zum Klimaschutzgesetz vom 24.5.2021

“Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen.”

“Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen. Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Auch der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten. Die Schonung künftiger Freiheit verlangt auch, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten. Konkret erfordert dies, dass frühzeitig transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die für die erforderlichen Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse Orientierung bieten und diesen ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermitteln.”

  • Reaktionen auf das Urteil
  • Was heißt es, frei zu leben (die alte Frage der Grundrechte)
  • staatliche Klimapolitik, deutsche Grundrechte und internationale Gerechtigkeit
  • praktische Folgen: gering (aber das ist häufig bei wichtigen Urteilen so)

17.1 Was heißt es, frei zu leben?

17.1.1 Grundrechtsideal des klassischen politischen Liberalismus

  • Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat: Abwehr staatlicher Eingriffe
  • Ideal persönlicher Autonomie innerhalb der freien Gesellschaft
  • Aber: Kein Schutz der Betroffenen vor sozialer Macht (die Protagonisten der Grundrechte im 18. und 19. Jahrhundert haben die Klassengesellschaft für unproblematisch gehalten)
  • Damit zugleich: Garantien sozialer Macht und wirtschaftlicher Expansion: Berufs- und Eigentumsfreiheit schützen freien Gebrauch und Ausbeutung natürlicher Ressourcen zum Zwecke der Produktion
  • Zugehöriger Begriff des Eigentums: Die Natur als Inbegriff von Sachen
  • Liberale Grundrechte gehören zum Kapitalismus, gerade auch zur ökologischen Schattenseite des Kapitalismus: “Verbrauch” der Natur grundsätzlich nicht begründungsbedürftig, wohl aber regulatorische Maßnahmen, die ihn begrenzen (Grundproblem des Umweltrechts).

17.1.2 Moderne Erfahrung: Die “Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft” (Berthold Vogel)

Freiheit ist nicht nur Freiheit vom Staat; freies Leben bedeutet zugleich:

  • Teilhabe an bestimmten elementaren Lebensgütern, die staatlich garantiert werden (Bildung, Infrastruktur)

  • Schutz vor Übergriffen, Ausbeutung, Prekarisierung

  • Vorsorge vor bestimmten Risiken (Gesundheit, ökologische Risiken)

Problem: Diese Dimensionen von Freiheit sind nicht durch die Abwehr von Eingriffen zu bewerkstelligen.

Möglichkeiten:

  • Die “neoliberale” Lösung: Bejahung privater Autonomie und privater Macht: Verteidigung der Reduktion der Grundrechte auf Abwehr staatlicher Freiheitseinschränkungen
  • Die “liberal-demokratische” Lösung: Grundrechte bleiben Abwehrrechte, aber die anderen Dimensionen von Freiheit (z.B. die Reichweite sozialstaatlicher Ansprüche und des Umweltschutzes) kann der Gesetzgeber regeln, ohne dazu verplichtet zu sein.
  • Die “progressive” Lösung: Umdeutung der Grundrechte in Garantien einer komplexeren Freiheit

17.2 Entwicklung der Grundrechte

17.2.1 Drittwirkung der Grundrechte

Grundrechte als Grenzen sozialer Macht (🔜 dazu kommen wir noch)

17.2.2 Schutzpflichten

Anerkennung in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, bei der es um die Frage ging, ob der Gesetzgeber die Abtreibung legalisieren darf (BVerfG: nein!).

“Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter. Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.” (BVerfGE 39, 1) - Volltext, gute Zusammenfassung im Casebook Verfassungsrecht.

Entwicklung der Schutzpflicht also in einem sozialpolitisch konservativen Kontext!

Dann aber auch im Zusammenhang mit der Vorsorge für die Risiken der Atomenergie:

“Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die grundrechtlichen Verbürgungen nicht lediglich subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen die öffentliche Gewalt, sondern stellen zugleich objektivrechtliche Wertentscheidungen der Verfassung dar, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben; dies wird am deutlichsten in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ausgesprochen, wonach es Verpflichtungen aller staatlichen Gewalt ist, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Daraus können sich verfassungsrechtliche Schutzpflichten ergeben, die es gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, daß auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eingedämmt bleibt. Ob, wann und mit welchem Inhalt sich eine solche Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab.” (BVerfGE 49, 89) - Volltext, ebenfalls gute Zusammenfassung im Casebook Verfassungsrecht.

17.2.3 Probleme

  • Schutzpflichten nur an den Gesetzgeber adressiert (Vorbehalt des Gesetzes!)
  • Weiteres gesetzgeberisches Ermessen: Abwägung mit anderen Belangen möglich.
  • Was, wenn der politische Prozess grundsätzlich nicht angemessen reagiert (Vorrang des Befristeten)
  • Umweltschutz (Art. 20a GG) ist nur ein “Staatsziel”, aber kein Grundrecht, auf das sich Menschen berufen können.
  • lange ganz h.M.: kein über die generelle Schutzpflicht hinausgehendes Grundrecht auf Umweltschutz

17.3 Das Urteil zum KSG

17.3.1 Besonderheiten des Falles:

  • “class action”; Aktivistinnen, gezielt gesuchte Beschwerddeführer (z.T. aus Bangladesch und Indien); keine besondere Betroffenheit.

  • Sehr breite Aufarbeitung der tatsächlichen Erkenntnisse zum Klimawandel im Urteil

Worauf berufen sich die Beschwerdeführer?

  • Schutzpflichten aus dem Grundrecht auf Leben und Eigentum
  • „Ökologisches Existenzminimum" und „Recht auf menschenwürdige Zukunft"
  • “Grundrecht auf klima- und umweltschonende Lebensweise”
  • Freiheit in der Zukunft: Notwendigkeit der Freiheitsbeschränkung heute, um später noch frei zu leben

Also: atypische “claims”; atpyischer Fall, atyptische Rechte: => Es geht gerade um eine Form von Freiheit jenseits “liberaler” Rechte auf individuelle Selbstbestimmung.

17.3.2 Schutzpflichten

“Der Staat ist durch das Grundrecht auf den Schutz von Leben und Gesundheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zum Schutz vor den Gefahren des Klimawandels verpflichtet. Er muss dem erheblichen Gefahrenpotenzial des Klimawandels durch Maßnahmen begegnen, die in internationaler Einbindung dazu beitragen, die menschengemachte Erwärmung der Erde anzuhalten und den daraus resultierenden Klimawandel zu begrenzen. Ergänzend sind positive Schutzmaßnahmen (sogenannte Anpassungsmaßnahmen) erforderlich, die die Folgen des Klimawandels lindern.” (Rdnr. 143)

“Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Die Pflicht zum Schutz vor Lebens- und Gesundheitsgefahren kann eine Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. Das gilt erst recht, wenn unumkehrbare Entwicklungen in Rede stehen.” (Rdnr. 145)

Aber: derzeit keine Verletzung der Schutzpflichten feststellbar.

Erstes Argument: Demokratie!

“Ob ausreichende Maßnahmen getroffen sind, um grundrechtliche Schutzpflichten zu erfüllen, ist verfassungsgerichtlich nur begrenzt überprüfbar. Die aus den Grundrechten folgenden subjektiven Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe einerseits und die […] Schutzpflichten andererseits unterscheiden sich insofern grundlegend voneinander, als das Abwehrrecht in Zielsetzung und Inhalt ein bestimmtes staatliches Verhalten verbietet, während die Schutzpflicht grundsätzlich unbestimmt ist. Die Entscheidung, in welcher Weise Gefahren entgegengewirkt werden soll, die Aufstellung eines Schutzkonzepts und dessen normative Umsetzung sind Sache des Gesetzgebers.”

Zweites Argument: Es geht erst um die Zukunft; konkreter Verlauf unsicher!

“… weil das konkrete nationale Klimaschutzinstrumentarium noch so fortentwickelt werden kann, dass das für 2030 geregelte Minderungsziel eingehalten wird. Reduktionsdefizite könnten innerhalb dieses Zeitraums noch kompensiert werden.” (Rdnr. 170)

Soweit bewegt sich die Entscheidung i.W. in den Bahnen der bisherigen Rechtsprechung; keine Überraschung!

17.3.3 Freiheitsrechte

Bisherige Prämisse: Freiheit ist gegenwärtige Freiheit, deswegen sind nur gegenwärtige Freiheitsbeschränkungen von Bedeutung (das jetzt herrschende Versammlungsverbot; die jetzt geltende Beschränkung der Meinungsfreiheit).

Problem: Schwierigkeit der Vorsorge, die u.U. heute Freiheitseinschränkungen gebietet, um künftige, noch größere Einschränkungen zu vermeiden (bekannt aus der Corona-Politik)

Lösung des Gerichts: Künftig unvermeidlich werdende, massivere Freiheitsbeschänkungen entfalten schon heute eine “Vorwirkung”.

Argument: Die Freiheitsbeschränkungen werden insgesamt um so massiver, je länger man damit wartet (s. Corona!):

“Aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit folgt, dass nicht einer Generation zugestanden werden darf, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine – von den Beschwerdeführenden als „Vollbremsung” bezeichnete – radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben schwerwiegenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. […] Weil die Weichen für künftige Freiheitsbelastungen […] bereits durch die aktuelle Regelung zulässiger Emissionsmengen gestellt werden, muss deren Auswirkung auf künftige Freiheit aus heutiger Sicht und zum jetzigen Zeitpunkt – in dem die Weichen noch umgestellt werden können – verhältnismäßig sein." (Rdnr. 192)

Modell:

  • Pariser Klimaschutzabkommen; errechenbare Restemissionsmengen, um das 2°-Ziel bis 2050 zu erreichen.

  • Umrechnung auf nationale Restemissionsbudgets

  • Bisheriges KlimaschutzG: Restbudget bis 2030 weitgehend weg - keine Aussage, was danach:

    “Legt man als ab 2020 verbleibendes konkretes nationales CO2-Restbudget 6,7 Gigatonnen zugrunde, […] würde dieses Restbudget durch die in § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG zugelassenen CO2-Mengen bis 2030 bereits weitgehend aufgezehrt.”

17.4 Zweifel an der Entscheidung

  • Gericht heimst viel Ruhm ein für etwas, was eigentlich unstrittig ist und trägt sehr wenig zur Lösung des Problems bei
  • Wenn bis 2030 90 Prozent des Restbudgets verbruacht, wieso dann weitergehende Verpflichtung erst ab 2030?
  • Gericht übernimmt keine Verantwortung für die Mittel
  • Zeitpunkt der Entscheidung “billig”: Die Grünen im Anflug auf die Regierung

17.5 Diskussionspunkte:

  • Defizit des “Langfristigen” - Eigenart der Demokratie?
  • Wer definiert die Opfer?
  • Annahmen über die Zukunft zur Legitimierung von Freiheitseinschränkungen heute - Sache von Verfassungsgerichten oder doch des Parlaments?