Abschnitt 6 Aufbau der Grundrechtsprüfung

6.1 Wiederholung und Einstieg

Unterschiedliche Ebenen des Grundrechtsschutzes; staatlicher und internationaler Menschenrechtsschutz; Europäische Menschenrechtskonvention des Europarats; Grundrechte-Charta der EU; EGMR und EuGH; Verhältnis zu den Grundrechten des Grundgesetzes

Worum geht es heute?

  • Grundmodell der Grundrechtsprüfung bei Freiheitsrechten verstehen

Vorbereitung / Nachbereitung (am besten Kingreen und Poscher 2020, Abschn. 6, Rdnr. 253 ff.)

Vertiefung: Meinel, Art. “Verhältnismäßigkeit”, Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. IV (auf StudIP)

6.2 Vorüberlegungen

6.2.1 Das Problem divergierender (Freiheits-)Interessen

Alltägliche Erfahrung: Freiheitsgebrauch kollidiert mit dem anderer und mit öffentlichen Interessen. Erfahrung im privaten Leben: Menschen verfolgen unterschiedliche Zwecke und Interessen, sind dabei aber aufeinander angewiesen. Folge: Ausgleich nötig. Ähnlich im Großen: Pluralistische Sozialordnung; es gibt keine objektiv verbindliche Idee des guten und richtig Lebens (dann bräuchte man auch keine Grundrechte), sondern sehr verschiedene Lebens- und Freiheitsentwürfe. Da Freiheit in einem gemeinsamen sozialen Raum ausgeübt wird, gibt es Konflikte. Menschen sind keine “Monaden”, die nur in ihrer eigenen Welt leben. Grundrechte schaffen Freiheitsräume in der geteilten sozialen Welt.


Beispiel: Durchführung einer Versammlung

  • grundsätzlich nicht in fremden Vorgärten (Eigentum Dritter)

  • nicht auf einem Autobahnkreuz (öffentliche Interesen)

  • nicht direkt vor dem Bundestag (Schutz der Verfassungsorgane)

Das gilt für praktisch alle Grundrechte: Wenn meine öffentlich geäußerte Meinung (Art. 5 GG) eine Beleidigung darstellt (§ 185 StGB), wird sie trotzdem bestraft; wenn ich in Ausübung meines Berufs (Art. 12 GG) Wald abholzen will, muss ich die Vorgaben des Naturschutzrechts beachten usw. usw. …

Folge: Auf den ersten Blick (prima facie) unter den Schutzbereich des Grundrechts fallende Verhaltensweisen, Interessen usw. können nicht definitiv geschützt sein.

Aufhabe: Überlegen Sie sich für alle Grundrechte (nehmen Sie Art. 2-16 GG) etwas, was gut unter den Wortlaut passt, aber aus ähnlichen Gründen am Ende nach Ihrem Judiz nicht von der Freiheit gemeint sein kann.


6.2.2 Mögliche Modelle der Grundrechtsprüfung

  1. sehr enge Schutzbereiche: alles, was Rechte Dritter oder öffentliche Interessen (zu stark) beeinträchtigt, ist schon gar nicht geschützt. Umgekehrt: Was geschützt ist, ist auch definitiv erlaubt!

Beispiel: Nur die Versammlung auf öffentlichem Straßenland, deren Inhalt nicht gegen Strafgesetze verstößt, nicht zur Zeit einer Pandemie stattfindet und auch sonst keine Rechte Dritter und keine öffentlichen Interessen beeinträchtigt, genießt den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG.

  1. weite Schutzbereiche: alles, was im weitesten Sinne zum “Schutzbereich” gehört, genießt primär GR-Schutz. Davon getrennt wird die Frage möglicher Beschränkungen, d.h. gegenläufiger Gesichtspunkte, die die Reichweite des Schutzes im konkreten Fall beschränken.

Beispiel: Zwar ist auch eine Versammlung der Friedensinitiative im Vorgarten des Waffenproduzenten W zur Zeit eines Lockdowns eine von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlung; das Eigentumsrecht des W stellt aber - möglicherweise - einen gegenläufigen Belang dar, der sich gegen das Grundrecht im konkreten Fall durchsetzt. Ebenso stellt möglicherweise der Gesundheitsschutz einen öffentlichen Belang dar, hinter dem der Grundrechtsschutz im konkreten Fall zurücktritt.

Anmerkung: Diese Technik der Abschichtung zwischen einem Recht und möglichen Gegen-Belangen ist kein Proprium der Grundrechte, siehe etwa § 903 BGB oder auch verschiedene Beispiele aus Staatsrecht I: Parlamentarische Informationsrechte und ihre Grenzen.

6.2.3 Vor- und Nachteile

Vorteile von (1)

  • Es wird nicht mehr versprochen als gehalten wird
  • Rechtskonflikte werden vermieden

Nachteile von (1)

  • Willkürliche Auslegungsergebnisse
  • kaum mit dem Wortlaut der GR-Normen vereinbar

Nachteile von (2)

  • Komplizierte Abwgägung und Gewichtung zwischen dem GR und gegenläufigen Belangen wird notwendig.

Vorteile von (2)

  • im Zweifel größtmöglicher Freiheitsschutz
  • Verfassungsgericht kann das Verhältnis von Freiheit und gegenläufigen Gesichtspunkten immer wieder neu justieren
  • Am wichtigsten aber: Grundrechtsbeschränkungen werden rechtfertigungspflichtig: Die Zuordnung zu einem grundrechtlichen Schutzbereich heißt noch nicht, dass die Freiheit absolut geschützt ist, sie löst aber die Pflicht (des Staates) aus, Begrenzungen der Freiheit zu begründen. Grundrechte werden auf diese Weise zu “Argumentationslastregeln”, wie das Bernhard Schlink (Sie kennen ihn vielleicht als literarischen Autor, aber er ist Zugleich der Begründer des Lehrbuchs, das heute Kingreen/Poscher heißt …) in einem berühmten Buch formuliert hat:

Mit dem Vorbehalt der Abwägung sind Grundrechte Argumentationslastregeln, d. h. Regeln, die eine Argumentation anordnen, von deren Erfolg abhängt, was mit den Grundrechten vereinbar ist. Damit ein Eingriff in die Freiheit des Bürgers nicht an den Grundrechten scheitert, muß die Argumentation gelingen, daß der Eingriff geeignet und notwendig ist, einen legitimen Zweck zu erreichen, und daß er dabei die Mindestposition wahrt. Gelingt die Argumentation nicht, dann scheitert der Eingriff an den Grundrechten. Welche Argumente in die Argumentation eingehen können, bestimmt das Abwägungsmodell mit seinen für die verschiedenen sozialen Bereiche verschiedenen Interpretationen.

Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S 195 f.

Deswegen entspricht (2) nicht zuletzt einem Grundrechtsmodell, in dem Grundrechte durch Verfassungsgerichte geschützt werden.

6.3 Schutzbereich - Eingriff - Rechtfertigung

Ganz einfach ergibt sich daraus folgendes Grundmodell des Grundrechtsschutzes:

Aus diesem Grundmodell ergeben sich folgende rein immanente Ableitungen

  1. Nicht jedes Freiheitsgebrauch, der in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ist auch “erlaubt”.
  2. Nur Begrenzungen der Freiheit, die einen “Eingriff” (dazu gleich) darstellen, unterfallen der Rechtfertigungspflicht.
  3. Nicht alle Grundrechtseingriffe sind unerlaubt.
  4. Gerechtfertigte Grundrechtseingriffe siund verfassungsgemäß.
  5. Nur ungerechtfertigte Grundrechtseinschränkungen stellen auch definitive Verletzungen eines Grundrechts dar.

Mach Sie sich möglichst die Bedeutung dieser Sätze klar, damit Sie den Sprachgebrauch verinnerlichen. Verwechseln Sie insbesondere nicht Grundrechtsengriff und GR-Verletzung!

6.3.1 Grundrechtseingriff

Begriff des Eingriffs: alter Sprachgebrauch; räumliche Metaphorik; hat nichts mit Greifen zu tun. Aber Verfassung verwendet den Begriff selbst (Art. 2 GG usw.)

Folgerung aus dem allgemeinen Rechtfertigungsmodell: Grundrechtseingriffe sollen alle rechtlich relevanten Vorgänge heißen, die eine Rechtfertigungspflicht auslösen sollen.

6.3.1.1 “Klassischer” Grundrechtseingriff

Vier Merkmale

  1. gezielt (final), d.h. keine unbeabsichtigte Nebenfolge
  2. durch Rechtsakt und nicht bloß durch rein tatsächliches Handeln
  3. unmittelbare Konsequenz des staatlichen Handelns
  4. die im Wege von Befehl und Zwang durchsetzbar, d.h. keine bloß mittelbare und/oder faktische Beschränkungen

Beispiele: - Behördliches Versammlungsverbot - Auflösung der Versammlung und ihre Durchsetzung mittels Zwang (Schlagstock, Wasserwerfer) - Willkürliche Verhaftung einer Teilnehmerin, um sie an Teilnahme zu hindern - Gesetzliches Verbot von Versammlungen aller Art während einer Pandemie

Grenzen: Limitiert auf hoheitliches Handeln (“General Dr. von Staat”); andere Formen der Freiheitsbeeinträchtigung nicht erfasst, z.B.

  • Auferlegung extrem hoher Versammlungsgebühren
  • Einschüchterung (Polizeihubschrauber kreist über den Köpfen der Teilnehmenden)
  • Privatisierung öffentlicher Straßen, so dass keine Versammlungen mehr stattfinden können (-> Fall der Woche; Fraport!)

6.3.1.2 Erweiterter Eingriffsbegriff

Wohlfahrtsstaat: Freiheit ist nicht nur Freiheit von staatlichem Zwang, sondern etwas sehr viel Umfassenderes (Klima-Urteil!). Daher anderer Begriff des Eingriffs.

Definition (please learn by heart):

Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das ein grundrechtlich geschütztes Verhalten wesentlich erschwert oder unmöglich macht bzw. ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut beeinträchtigt.

Unterschiede gegenüber dem “klassischen” oder “engen” Eingriffsbegriff:

  • auch mittelbare Eingriffe = Maßnahmen, deren belastende Wirkung nicht bei ihrem Adressaten, sondern bei einem Dritten eintritt (Beispiel: Genehmigung eines Atomkraftwerkes ist auch ein Eingriff in die Gesundheit der Anwohner; diese sind aber nicht unmittelbar adressiert)
  • auch faktische Eingriffe = Maßnahmen, die nicht rechtsförmig sind (Beispiel: staatliche Videoüberwachung einer Versammlung; Speicherung der Aufzeichnung)

Problemfelder:

  • Ausgestaltungsbedürftige Grundrechte (Art. 14 GG)
  • staatliche Warnungen
  • staatliche Leistungen (z.B. Subventionen)

6.3.1.3 Nicht: unmittelbare Drittwirkung

Aber: Voraussetzung eines GR-Eingriffs bleibt die Zurechenbarkeit zum Staat! Argument: Art. 1 Abs. 3 GG. Warum ist das so? Erstmal unplausibel, wenn man bedenkt, welche Macht nichtstaatliche Akteure haben:

  • Private Shopping-Malls, private Bahnhöfe, privates Land, auf dem die Eigentümer Demonstrationen und überhaupt jeden Freiheitsgebrauch Dritter verbieten können (§ 903, 1004 BGB)
  • Entlassung und Maßregelung von Arbeitnehmern durch Arbeitgeber
  • Macht von Immobilienfonds über Mieter
  • Regulierung der Meinungsäußerungsfreiheit durch die “Gemeinschaftsstandards” von GAFAT (Google-Amazon-Facebook-Apple-Twitter)
  • Ausbeutung natürlicher Ressourcen mit ökologischen Konsequenzen (auch der Schwedische Staatskonzern Vattenfall, der in Deutschland AKWs betreibt, hat vor nicht allzu lange Zeit noch beim BVerfG große Entschädigungssummen wegen des Atomausstiegs eingeklagt! Auch der Betrieb eines AKWs ist also grundrechtlich geschütztes Handeln; in das der Staat nicht ohne zureichenden Grund “eingreifen” darf.
  • Überhaupt die Tatsache, dass sich juristische Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG auf GRe berufen können, wenn sie z.B. mit natürlichen Personen Verträge schließen oder Forderungen gegen sie geltend machen.

Widerlegt das die Idee der Grundrechte oder rückt es sie in ein schlechtes Licht? Nicht unbedingt, nur sollte man sich über diese Seite keinen Illusionen hingeben. Grundrechte sind nicht nur “Freiheit”: Die Freiheit der Starken ist zugleich die Unfreiheit der Schwachen. Das ist einfach die Kehrseite des Liberalismus und seines Verständnisses der Grundrechte als “private Autonomie”: Liberale Freiheit erlaubt innerhalb der Gesellschaft die Ausübung Macht über andere:

  • Herrschaft innerhalb der Organisationshierarchie von Betrieben

  • Herrschaft durch Kontrolle über Eigentum und andere Ressourcen (Umwelt!);

  • Macht durch Innehabung von gewerblichen Schutzrechten (Patenten! Covid-Impfstoff!)

  • Macht durch privilegierten Zugang zu Wissen usw.

Das ist innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung kein Problem, sondern gerade der Sinn der Grundrechte.

Deswegen lehnte Karl Marx, lehnte der gesamte Marxismus die Grundrechte ja auch radikal ab und hielt sie für eine Ideologie der kapitalistischen Klasse! Sie erinnern sich aus der ersten Vorlesung daran, dass die Grundrechte in der DDR-Verfassung unter eine Art “Gemeinschaftsvorbehalt” gestellt waren und ausdrücklich auch für die gesellschaftlichen Machtbeziehungen galten. Etwa

Artikel 21. (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz “Arbeite mit, plane mit, regiere mit!”.

Artikel 24. (3) Das Recht auf Arbeit wird gewährleistet
durch das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln;
durch die sozialistische Leitung und Planung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses;
durch das stetige und planmäßige Wachstum der sozialistischen Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität;
durch die konsequente Durchführung der wissenschaftlich-technischen Revolution;
durch ständige Bildung und Weiterbildung der Bürger und durch das einheitliche sozialistische Arbeitsre cht.

Quelle: DocumentArchiv

Eine radikal antikapitalistische Grundrechtsinterpretation sagt deswegen auch heute: Grundrechte sind egalitär und emanzipatorisch; sie dürfen keine Rechtfertigung bieten für die Ausübung von sozialer Macht über Schwächere (Menke 2015; Wihl 2019).

Die Rechtsprechung des BVerfG und die absolut gängige Auffassung der Rechtswissenschaft halten dagegen daran fest, dass Grundrechte primär nicht Schutzrechte gegen “soziale Macht” sind. Das entspricht natürlich der liberalen ökonomischen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik. Und es ist auch richtig. Die inneren Widersprüche der liberalen Grundrechte (etwa die Legitimierung und Unsichtbarmachung von wirtschaftlicher Macht) nicht zu ignorieren, heißt nicht notwendigerweise, dass es sich bei Grundrechten um eine wirtschaftsliberale Ideologie handelt. Im Gegenteil! Nur auf der Basis liberaler Grundrechte ist es nämlich möglich, diese Widersprüche in fairen politischen Auseinandersetzungen demokratisch und offen auszutragen. Das Recht ist schließlich das einzige faire Mittel der Austragung und Befriedung von sozialen Gegensätzen.

Das demonstriert der nächste Punkt:

6.3.1.4 Aber: Mittelbare Drittwirkung

Seit langem allerdings anerkannt: Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Auch wenn Private nicht direkt an GR gebunden sind, sind GRe allerdings beachtlich bei der Auslegung des Privatrechts und gelten dadurch “mittelbar” auch im Privatrecht. Sie haben zum Beispiel Bedeutung für die Frage, was Treu und Glauben bedeutet (§ 242 BGB), wenn zwei sehr verschieden mächtige Vertragspartner beteiligt sind oder welche Meinungsäußerungen (Art. 5 Abs. 1 GG) eine sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) sein können.

Zuerst anerkannt in einem der berühmtesten Urteile des BVerfG überhaupt, dem Lüth-Urteil von 1958 (den Sachverhalt müssen Sie mal nachlesen, das ist ein Klassiker der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik!).

Die grundsätzliche Frage, ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese Wirkung im einzelnen gedacht werden müsse, ist umstritten […]

Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte. […]

Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt […]. Dieses Wertsystem […] muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.

Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften.

Für Interessierte empfehle ich diese kleine virtuelle Ausstellung des Bundesarchivs.

6.3.2 Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Noch einmal rekapitulieren: Grundmodell: Schutzbereich - Eingriff - Rechtfertigung.

Frage stellt sich immer dann, wenn ein Eingriff in GR vorliegt.

Bedeutung: Was sind die Bedingungen, unter denen der GR-Eingriff verfassungsrechtlich erlaubt ist? Unter welche Voraussetzungen sind GR-Eingriffe vom Betroffenen hinzunehmen?

6.3.2.1 Grundrechtsschranken (auch: “Grundrechtsbegrenzungen”)

Die Aussagen, die das GG selbst zu diesem Thema trifft, bezeichnet man - wiederum begegnen Sie hier wie in der Rechtssprache häuig einer räumlichen Metaphorik, von der Sie sich nicht allzu sehr verwirren lassen sollten - als “Schanken”.

6.3.2.1.1 Gesetzesvorbehalte

Das sind vor allem die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte.

Ein einfacher Gesetzesvorbehalt ist Art. 8 Abs. 2 GG:

Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Hier sagt das GG lediglich, dass Gesetze Eingriffe sowohl vorsehen als auch direkt vornehmen dürfen. Erforderlich ist dann jeweils ein formelles Gesetz (Parlamentsgesetz).

Andere einfache Gesetzesvorbehalte: Art. 2 Abs. 2; Art. 10 Abs. 2 S. 1 GG (lesen!).

Es gibt aber auch qualifizierte Gesetzesvorbehalte. hier errichtet die Verfassung über die bloße Existenz eines Gesetzes hinaus inhaltliche Anforderungen daran. Beispiel Art. 11 Abs. 2 GG (Freizügigkeit):

“Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.”

In beiden Fällen gilt: Das Gesetz muss nicht nur formelhaft Grundrechtseingriffe erlauben (“§ 1. Eingriffe sind zulässig. § 2. Das Nähere entscheiden die Behörden.”), sondern genau festlegen. Die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte sind auch ein Ausdruck und insofern identisch mit dem demokratischen Vorbehalt des Gesetzes (Wesentlichkeitsvorbehalt). Dieser Grundsatz sichert dem Parlament sein Monopol der Legalisierung bestimmter grundlegend wichtiger Entscheidungen und besagt, dass hoheitliche Maßnahmen, die insbesondere für die Ausübung der Grundrechte, aber auch sonst besonders bedeutsam sind, nur auf der Grundlage eines Gesetzes getroffen werden dürfen, d.h. nicht zum Beispiel eigenmächtig von der Verwaltung. Während dieser Grundsatz ursprünglich nur für “klassische Grundrechtseingriffe” galt, gilt er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heute ausnahmslos (Einzelheiten habe ich in der Vorlesung Staatsrecht I erzählt!).

„Ob eine Maßnahme wesentlich ist und damit dem Parlament selbst vorbehalten bleiben muß oder zumindest nur aufgrund einer inhaltlich bestimmten parlamentarischen Ermächtigung ergehen darf, richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz. Hier vermittelt der Schutz der Grundrechte einen wichtigen Gesichtspunkt. Die meisten Grundrechtsartikel sehen ohnehin vor, daß Eingriffe nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig sind. Außerdem entspricht ihre Sicherung durch Einschaltung des Parlaments dem Ansatze nach der überkommenen Vorbehaltslehre, ohne daß allerdings zwischen Eingriffen und Leistungen zu unterscheiden ist. Im grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet somit “wesentlich” in der Regel “wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte”. (BVerfGE 47, 46 (79)

Folge: Je intensiver und bedeutender der Grundrechtseingriff, desto detailliert muss die gesetzliche Regelung aufgrund des Gesetzesvorbehalts sein. In den Worten des BVerfG (aus dem Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe, einem der intensivsten Grundrechtseingriff, die die Rechtsordnung kennt):

“Die Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebotes sind allerdings um so strenger, je intensiver der Grundrechtseingriff ist (vgl. BVerfGE 59, 104 [114]; vgl. auch BVerfGE 49, 89 [133] und, zum Bestimmtheitsgebot für Straftatbestände, BVerfGE 75, 329 [342]), wobei der verfassungsrechtlich gebotene Grad der Bestimmtheit von der Besonderheit des jeweiligen Tatbestandes und von den Umständen abhängt, die zu der gesetzlichen Regelung führen (vgl. BVerfGE 28, 175 [183]). Da es hier um ein Kriterium geht, von dem nach einem Freiheitsentzug von 15 Jahren weiterer - unter Umständen mehrjähriger - Freiheitsentzug abhängt, sind an die Bestimmtheit des Tatbestandsmerkmals der besonderen Schwere der Schuld strenge Anforderungen zu stellen. Allerdings sind Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht nicht von vornherein verfassungsrechtlich zu beanstanden. Gegen ihre Verwendung bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhanges oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen läßt (vgl. BVerfGE 45, 363 [371 f.]).”

BVerfGE 86, 288 (311)

Problem aber zum Beispiel: Beschränkungen in der Pandemie aufgrund einer ganz allgemeinen gesetzlichen Ermächtigung (§§ 28, 32 InfSG).

6.3.2.1.2 Beispiel für ein solches vorbehaltenes Gesetz

Das Niedersächsische Versammlungsgesetz ist ein Beispiel für ein Gesetz aufgrund des Vorbehalts in Art. 8 Abs. 2 GG.

Es kennt beide Varianten:

  1. Regelungen, die unmittelbar selbst eingreifen (“durch Gesetz”):

§ 7 Abs. 1 S. 1. Jede nach § 5 anzuzeigende Versammlung unter freiem Himmel muss eine Leiterin oder einen Leiter haben.

  • Rechtsfolge tritt unmittelbar ein
  • Freiheit wird unmittelbar beschränkt
  1. Regelungen, die Eingriffe aufgrund des Gesetzes erlauben (d.h. das Gesetz selbst verbietet die Versammlung nicht, sondern gibt der Versammlungsbehörde nur die Möglichkeit dazu).

§ 8. Beschränkung, Verbot, Auflösung. (1) Die zuständige Behörde kann eine Versammlung unter freiem Himmel beschränken, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren.

  1. Die zuständige Behörde kann eine Versammlung verbieten oder auflösen, wenn ihre Durchführung die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet und die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann. (…)

  2. Eine Versammlung kann auch beschränkt oder verboten werden, wenn

  1. sie an einem Tag oder Ort stattfinden soll, dem ein an die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft erinnernder Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt und durch die Art und Weise der Durchführung der Versammlung der öffentliche Friede in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise unmittelbar gefährdet wird, oder

  2. durch die Versammlung die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht, gerechtfertigt oder verharmlost wird, auch durch das Gedenken an führende Repräsentanten des Nationalsozialismus, und dadurch der öffentliche Friede in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise unmittelbar gefährdet wird.

6.3.2.1.3 Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt

–> Art. 8 Abs. 1 GG: Gesetzesvorbehalt gilt nicht für Versammlungen in geschlossenen Räumen. In diesem Fall ist die Problematik etwas anders; dazu weiter unten.

6.3.2.2 Schranken-Schranken

Jetzt haben wir ein Gesetz, das das GR beschränkt. Ist damit alles gut? Müssen wir nur noch sehen, was das Gesetz erlaubt? Alles, was das Gesetz erlaubt, ist dann auch grundrechtlich kein Problem? Früher, d.h. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sah man das überwiegend so. (Übrigens - anders als das in den meisten Lehrbüchern dargestellt wird - nicht aus Missachtung gegenüber den Grundrechten, sondern aus Hochschätzung gegenüber dem Gesetz!).

Heute anders: auch der Gesetzgeber ist an GR gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG!).

Folge: Auch jenseits dieser Anforderungen an das durch den Gesetzesvorbehalt vorbehaltene Gesetz darf durch Gesetze nicht beliebig in Grundrechte eingegriffen werden. Der Gesetzgeber ist bei der Beschränkung von Grundrechten seinerseits in inhaltlicher Hinsicht an das Freiheitsversprechen der GR gebunden.

Diese Grenzen der Grundrechtsbegrenzung bezeichnet man - ärgerliche Bezeichnung, als ginge es um einen Bahnübergang - als “Schranken-Schranken”.

6.3.2.2.1 Formelle Schranken-Schranken

Einige Grenzen dessen, was der Gesetzgeber aufgrund der Gesetzesvorbehalte tun darf, errichtet die Verfassung selbst, vor allem in Art. 19 GG.

“(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. (2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. (3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. (4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.”

6.3.2.2.1.1 Zitiergebot: Art. 19 Abs. 1

Beschränkendes Gesetz muss das GR zitieren, also benennen. Gesetzgeber soll es sich also genau überlegen, dass er eingreift, und es den Normadressaten auch sagen.

“Das Zitiergebot erfüllt eine Warn- und Besinnungsfunktion (vgl. BVerfGE 64, 72 [79 f.]). Durch die Benennung des Eingriffs im Gesetzeswortlaut soll gesichert werden, dass der Gesetzgeber nur Eingriffe vornimmt, die ihm als solche bewusst sind und über deren Auswirkungen auf die betroffenen Grundrechte er sich Rechenschaft ablegt (vgl. BVerfGE 5, 13 [16]; 85, 386 [404]). Die ausdrückliche Benennung erleichert es auch, die Notwendigkeit und das Ausmaß des beabsichtigten Grundrechtseingriffs in öffentlicher Debatte zu klären. Diese Warn- und Besinnungsfunktion betrifft nicht nur eine erstmalige Grundrechtseinschränkung, sondern wird bei jeder Veränderung der Eingriffsvoraussetzungen bedeutsam, die zu neuen Grundrechtseinschränkungen führt.”

Einschränkungen:

  • Gilt nur bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt (warum: dazu später!)
  • Gilt nur bei “klassischen” Grundrechtseingriffen

Beispiel:

§ 23 NdsVErsG. Einschränkung eines Grundrechts. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Abs. 1 des Grundgesetzes) wird nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt.

6.3.2.2.1.2 Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG)
  • Weitgehend gegenstandslos, weil Einzelfallgesetze stets auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen (–> dazu später)
6.3.2.2.2 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Die mit Abstand wichtigste Schranken-Schranke ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

  • Keine Vorgabe des Grundgesetzes, sondern eine Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung

  • Bahnbrechend: Apothekenurteil 1958 (BVerfGE 7, 377), in dem das Gericht zum ersten Mal eine gesetzliche Regelung einer detaillierten Kontrolle anhand der verfolgten Regelungszwecke und der die Freiheitsbeschränkung tragenden Gründe entwarf.

  • zunächst vor allem ein Topos des deutschen Verfassungsrechts, inzwischen sowohl in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte als auch der Verfassungsgerichte der USA, Südamerikas, Ostasiens und Israels aufgegriffen und verwendet („Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes")

  • Begründung: Rechtsstaatsprinzip; Grundrechte selbst: Grundrechtsbeschränkung nur im notwendigen Maße:

  • Grundrechte dürfen „als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden …, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist" (BVerfGE 19, 342 [348f.])

  • Theoretisch umstrittenes Konzept: Bestritten wird vor allem die Rationalität der Abwägung: Produziert die Prüfung der Verhältnismäßigkeit methodisch vertretbare und nachvollziehbare Ergebnisse,

Der Grundsatz der V. hat - so wie ihn die Rechtsprechung praktiziert - folgende Elemente:

  1. Legitimer Zweck: Die Grundrechtsbeschränkung muss einem legitimen Zweck dienen. Das sind grundsätzlich alle Zwecke (die Demokratie darf politische Zwecke frei definieren!), es sei denn, sie sind verfassungsrechtlich verboten. Nicht legitim wäre z.B. der Zweck, alle Bürger zu besseren Menschen zu erziehen. Auch ganz allgemeine Zwecke (gerechtere Verteilung des Vermögens) ausreichend.

  2. Geeignetheit: Ist der Grundrechtseingriff ein Mittel, mit dessen Hilfe der angestrebte Zweck gefördert werden kann (Tauglichkeit)? Das ist keine Rechtsfrage, sondern eine rein empirische Frage (um so problematischer, je stärker eine Frage verwissenschaftlicht!).

  3. Erforderlichkeit Gibt es ein anderes, gleich geeignetes, aber weniger belastendes Mittel, miz dem der Zweck ebensogut erfüllt werden kann? Wenn ja, dann spricht die Freiheit dafür, dass der Grundrechtseingriff zu weit geht. Auch das ist keine Rechtsfrage, sondern eine rein empirische Frage.

  4. Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.): die den Einzelnen treffende Grundrechtsbelastung darf nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck und den dabei erstrebten Vorteilen für die Allgemeinheit stehen: Ermittelt wird das im Wege einer Gesamtabwägung zwischen den Auswirkungen für den Betroffenen einerseits und den entgegenstehenden öffentlichen Interessen andererseits.

Angemessenheit

  • betroffene Belange und rechtliche Bewertung (Beispiel: wichtiges politisches Anliegen einer Versammlung)
  • Intensität des Eingriffs (Verbot der Versammlung oder bloße Beschränkung in einem marginalen Aspekt)
  • Bedeutung der öffentlichen Interessen (Verhinderung von NS-verherrlichenden Versammlungen; Schutz der Repräsentationsorgane oder bloße Verwaltungsbequemlichkeit)
  • Bedeutung der Rechte Dritter (Schutz Dritter vor Gewalt oder bloß Schutz der Primeln im Vorgarten von Anwohnern)
  • Dauer eines Grundrechtseingriffs (Versammlungsbeginn wird lediglich um 10 Minuten verschoben)
  • mögliche Kompensationen (Entschädigung)
  • u.v.m.

6.3.3 Besonderheiten bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt

Es ist anerkannt, dass auch GR ohne GV eingeschränkt werden können (Beispiel: Versammlungen in geschlossenen Räumen, Art. 8 Abs. 1 GG; Religionsausübungsfreiheit, Art. 4 Abs. 2 GG).

Beispiel:

  • Die Versammlung soll in einem Haus stattfinden, das so baufällig ist, dass unmittelbare Lebensgefahr für die Teilnehmenden besteht.
  • Eine große Fronleichnamsprozession (Art. 4 Abs. 2 GG) mit zehntausenden Teilnehmern auf dem Höhepunkt einer schweren Pandemie.
  • Eltern verweigern aus religiösen Gründen die Teilnahme ihres Kindes am allgemeinen Schulunterricht.
  • (Beispiel nach BVerfGE 90, 241): Die Versammlungsbehörde beschränkt, gestützt auf § 14 NdsVersG, eine geschlossene Versammlung in einer Gaststätte, weil sie davon ausgeht, dass die Versammlung der Verbreitung von Theorien dient, wonach der Holocaust an den europäischen Juden eine Erfindung sei.

In diesen Fällen ist im Ergebnis fast einmütig anerkannt, dass Grundrechtseingriffe zulässig sein müssen. Die Frage ist nur, wie man dies begründet.

6.3.3.1 Gesetzliche Beschränkungen

Auch der Gesetzgeber geht davon aus, dass Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete GR möglich sind.

Beispiel wiederum: NdsVersG

Dritter Teil: Versammlungen in geschlossenen Räumen § 14 Beschränkung, Verbot, Auflösung. (1) Die zuständige Behörde kann eine Versammlung in geschlossenen Räumen beschränken, wenn ihre Friedlichkeit unmittelbar gefährdet ist.

  1. 1Die zuständige Behörde kann eine Versammlung verbieten oder auflösen, wenn ihre Friedlichkeit unmittelbar gefährdet ist und die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann. 2Eine verbotene Versammlung ist aufzulösen. 3Nach der Auflösung haben sich die teilnehmenden Personen unverzüglich zu entfernen.

§ 15. Besondere Maßnahmen. (2) 1Die zuständige Behörde kann anhand der nach Absatz 1 erhobenen Daten durch Anfragen an Polizei- und Verfassungsschutzbehörden prüfen, ob die betroffene Person die Friedlichkeit der Versammlung unmittelbar gefährdet.

Warum sind solche Regelungen möglich, obwohl die Verfassung keine Eingriff aufgrund Gesetzes erlaubt?

6.3.3.2 Schrankenkonstruktion

Mehrere Möglichkeiten und Ansichten dazu:

  1. allgemeine Geltung der generellen Schranken (“Schrankentrias”) des Art. 2 Abs. 1 GG (Rechte anderer, verfassungsmäßige Ordnung, Sittengesetz). Problem: Systematik!

  2. “Schrankenleihe”: Es wird der Gesetzesvorbehalt des jeweils am besten passenden Grundrechts herangezogen. Bei Art. 4 GG etwa Art. 5 Abs. 2 GG. Problem: ausdrücklicher Wortlaut der Verfassung; siehe Art. 8 Abs. 1 GG

  3. Ganz herrschende Meinung und Rechtsprechung: Theorie der verfassungsimmanenten Schranken: Das GR kann beschränkt werden durch gegenläufige Zwecke, die in der Verfassung selbst vorgesehen sind (nicht der Gesetzgeber kann diesen Zweck frei setzen, sondern er muss schon durch die Verfassung gesetzt sein).

Begründung: Einheit der Verfassung!

Kein GR darf so ausgelegt werden, dass es andere anerkannte Güter von Verfassungsrang mehr als nötig beeinträchtigt.

Insbesondere Grundrechte Dritter!

6.3.3.3 Beispiele

**Beispiel 1 (BVerwGE, NVwZ 1999, 991): Die Versammlungsbehörde verbietet eine Parteiversammlung in einer Stadthalle, weil sie aufgrund sicherer Anhaltspunkte von einem gewalttätigen Verlauf ausgeht:

“Der Heranziehung der in Rede stehenden Ermächtigungsgrundlage steht auch nicht der Umstand entgegen, daß Art. 8 GG in seinem Absatz 2 einen Gesetzesvorbehalt lediglich für Versammlungen unter freiem Himmel vorsieht, während die Versammlungsfreiheit für eine friedliche und waffenlose Versammlung in geschlossenen Räumen nach Art. 8 I GG vorbehaltlos gewährleistet ist. Dieser Schutz reicht nämlich nicht so weit, daß er überhaupt keine Einschränkungen zuließe. Vielmehr darf der Staat unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung selbstvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte einschließlich des Grundrechts aus Art. 8 I GG einschränken, wenn dies zum Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte notwendig ist (vgl. z.B. auch BVerwGE 90,112 [122] = NJW 1992, 2496 = NVwZ 1992, 1186 L; BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], NJW 1989, 3269 [3270]; Jarass, in: ders.–Pieroth, GG, 4. Aufl., Art. 8 Rdnr. 18). Insbesondere findet die Versammlungsfreiheit dort ihre Grenzen, wo die Ausübung dieses Grundrechts durch den Grundrechtsträger auf dasRecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit anderer Menschen trifft.” (BVwerG a.a.O.)

Beispiel 2 (BVerfGE 35, 173: Mephisto-Urteil) (wiederum ein Fall aus der Rechtsprechung, der, wie viele andere berühmte Fälle, um die Bewältigung der NS-Vergangenheit geht: diesmal um die NS-Vergangenheit des berühmten Schauspielers Gustaf Gründgens).

“Die Freiheitsverbürgung in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG (…) Jedoch kommt der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts die Bedeutung zu, daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden, welche ohne verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt und ohne ausreichende rechtsstaatliche Sicherung auf eine Gefährdung der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendigen Güter abhebt. Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen. Als Teil des grundrechtlichen Wertsystems ist die Kunstfreiheit insbesondere der in Art. 1 GG garantierten Würde des Menschen zugeordnet, die als oberster Wert das ganze grundrechtliche Wertsystem beherrscht (BVerfGE 6, 32 [41]; 27, 1 [6]). Dennoch kann die Kunstfreiheitsgarantie mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich in Konflikt geraten, weil ein Kunstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen entfalten kann.”

(BVerfGE 35, 173)

  • Allerdings muss auch in diesen Fällen die Reichweite des Grundrechtseingriffs durch formelles Gesetz konkretisiert werden (demokratischer Vorbehalt des Gesetzes).

  • Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG sagt ausdrücklich, dass das Zitiergebot für diese Fälle nicht gilt!

  • Für die Schranken-Schranken (insbesondere Verhältnismäßigkeit) ergeben sich ansonsten keine Besonderheiten. Auch und gerade Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete GR müssen verhältnismäßig sein.

  • Beachte aber: In diesem Fällen findet keine selbständige Prüfung des legitimen Zwecks des GR-Eingriffs statt. Denn legitim ist bei diesen Grundrechten ja nur der durch die Verfassung selbst gesetzte Zweck (z.B. Schutz der GR Dritter!), nicht aber sonstige Zwecke, die durch Gesetzgebung gesetzt werden.

6.4 Grundschema der Grundrechtsprüfung

Ausführlicher Kingreen und Poscher (2020), Rdnr. 401

  1. Schutzbereich

    1. Persönlich

    2. Sachlich: Schutzgut und geschützte Verhaltensweise

  2. Eingriff

  3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

    1. Schranke

      1. Gesetzesvorbehalt (einfach/qualifiziert)

      2. Wenn nein: verfassungsunmittelbare Schranken: Rechtsgüter von Verfassungsrang, insbesondere GR Dritter

    2. Schranken-Schranken:

      1. Formelle Schranken-Schranken (Art. 19 Abs. 1 GG):

        1. Verbot des Einzelfallgesetzes

        2. Zitiergebot

      2. Materielle Schranken-Schranke: Verhältnismäßigkeit

        1. Legitimes Ziel des GR-Eingriffs (bei Vorbehaltlos gewährleisteten GR nur die oben als Schranken identifizierten Güter)

        2. Geeignetheit zur Erreichung des Ziels (empirisch; nicht normativ)

        3. Erforderlichkeit: kein milderes Mittel (empirisch; nicht normativ)

        4. Angemessener Ausgleich der betroffenen grundrechtlichen Schutzgüter und der gegenläufigen Interessen/Rechte

    3. Rechtfertigung (+ / -)

  4. Ergebnis