1 Zufallsvorgänge
In diesem Kurs geht es um Zufall. Die Frage, was man unter Zufall eigentlich zu verstehen hat, ist schwierig zu beantworten. Sie gehört eher in den Bereich der Philosophie als den der Wirtschaftswissenschaften. Voltaire meinte dazu:
Le hasard est un mot vide de sens; rien ne peut exister sans cause.
(Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursache existieren.)
Wir definieren in diesem Kurs Zufall darum auf eine sehr pragmatische Art.
Mit Zufallsvorgängen hat man es also unentwegt zu tun. Wir wissen nicht, wie sich der DAX-Index im Laufe des nächsten Monats entwickeln wird, aber wir wissen, dass er einen Wert zwischen 0 und unendlich haben wird. Die Entwicklung des DAX-Index ist also im Sinne unserer Definition zufällig. Wir wissen nicht, ob eine bestimmte Person im nächsten Jahr arbeitslos sein wird, aber wissen, dass sie es sein könnte oder auch nicht. Der Arbeitslosigkeitsstatus dieser Person ist also ebenfalls zufällig im Sinne unserer Defintion. Entscheidend für unser Verständnis von Zufall ist also nicht, dass ein Vorgang ohne erkennbare Ursache auf ein bestimmtes Ergebnis zuläuft, sondern dass wir als Beobachter nicht genau vorhersehen können, was passieren wird, selbst wenn wir wissen, dass es Faktoren gibt, mit denen man das Ergebnis erklären könnte, wenn man mehr Informationen hätte.
Oft wird bei der Definition von Zufallsvorgängen gefordert, dass sie unter identischen Bedingungen wiederholbar sind. In den Wirtschaftswissenschaften betrachten wir fast immer Zufallsvorgänge, die nicht unter identischen Bedingungen wiederholt werden können. Trotzdem werden wir in diesem Kurs, zumindest am Beginn, aus didaktischen Gründen oft wiederholbare Zufallsvorgänge betrachten, die jedoch nichts mit wirtschaftlichen Fragestellungen zu tun haben. Als Beispiel dienen vor allem Würfelwürfe. Solche Zufallsvorgänge, die sich unter praktisch identischen Bedingungen wiederholen lassen, nennt man auch Zufallsexperimente.
Damit wir einen Zufallsvorgang präzise beschreiben und vernünftig mit ihm arbeiten können, brauchen wir einen formalen Rahmen und eine geeignete Terminologie. Die Wahrscheinlichkeitstheorie bietet einen solchen Rahmen. In den folgenden Abschnitten lernen wir ihn kennen.
1.1 Ergebnisraum
Um einen Zufallsvorgang formal zu erfassen, schreiben wir alle möglichen Ergebnisse des Zufallsvorgangs in eine Menge. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Eintritt eines Ergebnisses als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich angesehen wird. Alle Ergebnisse, die eintreten können, werden in die Menge aufgenommen. Im Anhang B finden Sie eine kurze Zusammenfassung zu Mengen und Mengenoperationen.
Der Ergebnisraum wird meist mit dem griechischen Buchstaben \(\Omega\) (großes Omega) bezeichnet. Die Elemente des Ergebnisraums werden allgemein als \(\omega_1,\omega_2,\ldots\) (kleine Omegas) notiert.
1.2 Ereignisse
Aussagen über Wahrscheinlichkeiten beziehen sich nicht immer nur auf einzelne Ergebnisse aus der Ergebnismenge, sondern oft auf mehrere Ergebnisse. Zusammenfassungen von Ergebnissen nennt man Ereignisse. Sie werden meist mit großen lateinischen Buchstaben bezeichnet \((A, B, C, \ldots)\).
Zu den Ereignissen gehören auch die leere Menge \(\emptyset\) und \(\Omega\) selber. Das Ereignis \(\emptyset\) nennt man das unmögliche Ereignis, weil es nie eintreten kann. Das Ereignis \(\Omega\) nennt man das sichere Ereignis, weil es mit Sicherheit eintritt. Wenn ein Ereignis nur ein einziges Ergebnis enthält (z.B. \(A=\{\omega_1\}\)), dann spricht man von einem Elementarereignis.
Weil Ereignisse Mengen sind, lassen sie sich nach den normalen Regeln der Mengenlehre verknüpfen. Dadurch lassen sich aus Ereignissen neue Ereignisse definieren.
Vereinigungsmenge (engl. union): Das Ereignis \(A\cup B\) tritt ein, wenn \(A\) oder \(B\) eintritt (oder beide).
Schnittmenge (engl. intersection): Das Ereignis \(A\cap B\) tritt ein, wenn \(A\) und \(B\) eintreten.
Komplementärmenge (engl. complementary set): Das Ereignis \(\bar A\) tritt ein, wenn \(A\) nicht eintritt.
Zwei Ereignisse heißen disjunkt (oder unvereinbar), wenn sie nicht gemeinsam eintreten können, d.h. wenn \(A\cap B=\emptyset\) ist.
Bei einem Zufallsvorgang tritt immer nur ein Ergebnis ein, da aber dieses Ergebnis Element mehrerer Ereignisse sein kann, können durchaus mehrere Ereignisse eintreten. Die Unterscheidung zwischen Ergebnis und Ereignis mag zunächst etwas haarspalterisch erscheinen, sie ist aber wichtig und nützlich, denn sie erleichtert später den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Über Wahrscheinlichkeiten wurde bisher noch nichts gesagt, das folgt in Kapitel 2.
Die folgenden Rechenregeln für Mengen sind oft nützlich, wenn man mit Ereignissen arbeitet:
- Distributivgesetz:
\[\begin{align*} A\cup (B\cap C)&=(A\cup B)\cap (A\cup C)\\ A\cap (B\cup C)&=(A\cap B)\cup (A\cap C). \end{align*}\]
- Regeln von de Morgan:
\[\begin{align*} \overline{A\cup B} &= \overline{A}\cap \overline{B}\\ \overline{A\cap B} &= \overline{A}\cup \overline{B}. \end{align*}\]
Die Kardinalität oder Mächtigkeit der Ergebnismenge bezeichnen wir mit \(|\Omega|\). Wenn \(\Omega\) nur endlich viele Elemente hat, ist die Kardinalität schlicht und einfach die Anzahl der Elemente. Es ist aber auch möglich (und in vielen ökonomischen Anwendungen auch üblich), dass die Ergebnismenge unendlich viele Elemente enthält. In solchen Fällen kann es zu einigen mathematisch-technischen Schwierigkeiten kommen, die wir in diesem Kurs aber ignorieren. Eine sorgfältigere Behandlung findet in dem Bachelor-Wahlpflichtmodul Advanced Statistics statt.