2 Zufallsvorgänge
In diesem Kurs geht es um Zufall. Die Frage, was man unter Zufall eigentlich zu verstehen hat, ist schwierig zu beantworten. Sie gehört eher in den Bereich der Philosophie als den der Wirtschaftswissenschaften. Voltaire meinte dazu:
Le hasard est un mot vide de sens; rien ne peut exister sans cause.
(Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursache existieren.)
Wir definieren in diesem Kurs Zufall darum auf eine sehr pragmatische Art.
Mit Zufallsvorgängen hat man es also unentwegt zu tun. Wir wissen nicht, wie sich der DAX-Index im Laufe des nächsten Monats entwickeln wird, aber wir wissen, dass er einen Wert zwischen 0 und unendlich haben wird. Die Entwicklung des DAX-Index ist also im Sinne unserer Definition zufällig. Wir wissen nicht, ob eine bestimmte Person im nächsten Jahr arbeitslos sein wird, aber wissen, dass sie es sein könnte oder auch nicht. Der Arbeitslosigkeitsstatus dieser Person ist also ebenfalls zufällig im Sinne unserer Defintion. Entscheidend für unser Verständnis von Zufall ist also nicht, dass ein Vorgang ohne erkennbare Ursache auf ein bestimmtes Ergebnis zuläuft, sondern dass wir als Beobachter nicht genau vorhersehen können, was passieren wird, selbst wenn wir wissen, dass es Faktoren gibt, mit denen man das Ergebnis erklären könnte, wenn man mehr Informationen hätte.
Oft wird bei der Definition von Zufallsvorgängen gefordert, dass sie unter identischen Bedingungen wiederholbar sind. In den Wirtschaftswissenschaften betrachten wir fast immer Zufallsvorgänge, die nicht unter identischen Bedingungen wiederholt werden können. Trotzdem werden wir in diesem Kurs, zumindest am Beginn, aus didaktischen Gründen oft wiederholbare Zufallsvorgänge betrachten, die jedoch nichts mit wirtschaftlichen Fragestellungen zu tun haben. Als Beispiel dienen vor allem Würfelwürfe. Solche Zufallsvorgänge, die sich unter praktisch identischen Bedingungen wiederholen lassen, nennt man auch Zufallsexperimente.
Damit wir einen Zufallsvorgang präzise beschreiben und vernünftig mit ihm arbeiten können, brauchen wir einen formalen Rahmen und eine geeignete Terminologie. Die Wahrscheinlichkeitstheorie bietet einen solchen Rahmen. In den folgenden Abschnitten lernen wir ihn kennen.
2.1 Mengen
Für die Wahrscheinlichkeitstheoriebraucht man einige einfache Grundbegriffe aus der Mengenlehre. Sie werden hier auf nicht formale Weise kurz dargestellt. Die Beschreibung orientiert sich an Kapitel 2.5 des Lehrbuchs “Probability Theory and Statistical Inference” (2019), 2nd ed., von Aris Spanos.
Die Objekte in einer Menge können reale physische Objekte oder imaginäre Objekte sein. Die Elemente einer Menge können Zahlen sein, aber es müssen keine Zahlen sein. Wichtig ist, dass die Objekte einer Menge unterscheidbar sind.
Die Elemente einer Menge kann man explizit aufzählen oder durch ihre Eigenschaften definieren. In beiden Fällen werden die Elemente einer Menge durch geschweifte Klammern umfasst. Die Reihenfolge der Elemente in der Menge spielt keine Rolle. Mengen dürfen auch Mengen enthalten.
Wenn ein Objekt
Eine Menge kann endlich (engl. finite) viele oder unendliche (engl. infinite) viele Elemente enthalten. Bei Mengen mit unendlich vielen Elementen unterscheidet man verschiedene “Stufen” von Unendlichkeit. Wenn die Elemente im Prinzip mit den natürlichen Zahlen durchnummeriert werden können, nennt man die Menge abzählbar (engl. countable) unendlich. Wenn das nicht geht, heißt sie überabzählbar (engl. uncountable) unendlich. Die Mengen
Eine Menge darf auch leer sein. Man nennt sie dann die leere Menge und schreibt
Eine Menge
Die Definition der Teilmenge benutzt man auch, um die Gleichheit zweier Mengen zu definieren. Zwei Mengen
Die Vereinigungsmenge (engl. union) von zwei Mengen
Die Schnittmenge (engl. intersection) von zwei Mengen
Sowohl die Vereinigungsmenge als auch die Schnittmenge kann auf mehr als zwei Mengen verallgemeinert werden. Beispielsweise schreibt man
Als Komplementärmenge (engl. complementation) einer Menge
Sowohl Vereinigungs- als auch Schnittmenge sind kommutativ, d.h.
Außerdem sind sie assoziativ, d.h.
Auch das Distributivgesetz gilt,
Als Rechenregel nützlich ist oft die Regel von de Morgan. Sie zeigt, wie die Komplementärmenge einer Vereinigungsmenge oder Schnittmenge aussieht,
Mengen - und vor allem Mengenoperationen - können auch grafisch repräsentiert werden. Eine oft genutzte Methode sind die sogenannten Venn-Diagramme. In einem Venn-Diagramm werden Mengen durch Flächen dargestellt, oft durch Kreise. Die Elemente der Mengen können dann in die Flächen eingetragen werden. Oft interessieren einen jedoch die einzelnen Elemente gar nicht so, sondern man möchte nur die Funktionsweise der Mengenoperationen veranschaulichen.
Am Beispiel von zwei Mengen
Will man ausdrücklich
Entsprechend zeigt
nur die Menge
Die Schnittmenge
Die Komplementärmenge
2.2 Ergebnisraum
Um einen Zufallsvorgang formal zu erfassen, schreiben wir alle möglichen Ergebnisse des Zufallsvorgangs in eine Menge. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Eintritt eines Ergebnisses als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich angesehen wird. Alle Ergebnisse, die eintreten können, werden in die Menge aufgenommen. Im Abschnitt 2.1 finden Sie eine kurze Zusammenfassung zu Mengen und Mengenoperationen.
Der Ergebnisraum wird meist mit dem griechischen Buchstaben
2.3 Ereignisse
Aussagen über Wahrscheinlichkeiten beziehen sich nicht immer nur auf einzelne Ergebnisse aus der Ergebnismenge, sondern oft auf mehrere Ergebnisse. Zusammenfassungen von Ergebnissen nennt man Ereignisse. Sie werden meist mit großen lateinischen Buchstaben bezeichnet
Zu den Ereignissen gehören auch die leere Menge
Weil Ereignisse Mengen sind, lassen sie sich nach den normalen Regeln der Mengenlehre verknüpfen. Dadurch lassen sich aus Ereignissen neue Ereignisse definieren.
Vereinigungsmenge (engl. union): Das Ereignis
tritt ein, wenn oder eintritt (oder beide).Schnittmenge (engl. intersection): Das Ereignis
tritt ein, wenn und eintreten.Komplementärmenge (engl. complementary set): Das Ereignis
tritt ein, wenn nicht eintritt.
Zwei Ereignisse heißen disjunkt (oder unvereinbar), wenn sie nicht gemeinsam eintreten können, d.h. wenn
Bei einem Zufallsvorgang tritt immer nur ein Ergebnis ein, da aber dieses Ergebnis Element mehrerer Ereignisse sein kann, können durchaus mehrere Ereignisse eintreten. Die Unterscheidung zwischen Ergebnis und Ereignis mag zunächst etwas haarspalterisch erscheinen, sie ist aber wichtig und nützlich, denn sie erleichtert später den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Über Wahrscheinlichkeiten wurde bisher noch nichts gesagt, das folgt in Kapitel 3.
Die folgenden Rechenregeln für Mengen sind oft nützlich, wenn man mit Ereignissen arbeitet:
- Distributivgesetz:
- Regeln von de Morgan:
Die Kardinalität oder Mächtigkeit der Ergebnismenge bezeichnen wir mit