2.4 Bottom-up – Teil 1
Zusammen mit der vorherigen Folie sollten diese beiden Abbildungen den Weg vom aufgenommenen Reize (G. T. Fechner nennt das den proximalen Reiz) zur Objektwahrnehmung erläutern.
In einem ersten Schritt werden aus den Signalen, die über den Sehnerv aus dem Auge zum visuellen Cortex geleitet werden, relativ unabhängig voneinander visuelle Merkmale extrahiert. Aus den Merkmalen entstehen in der Verarbeitung Muster, Konturen und Regionen, die in einem letzten Schritt zu bedeutungshaltigen Objekten verarbeitet werden.
Einige Beobachtungen und Erkenntnisse zu diesem Weg der Verarbeitung: Wir haben im Auge gut 100 Millionen Nervenzellen, die Licht registrieren; unsere Stäbchen und Zapfen, die auf die aufgenommenen Photonen reagieren, elektrische Impulse erzeugen und diese weiterleiten. Über den Sehnerv verlässt das Auge aber nur etwa eine Million Nervenbahnen (die zusammen den Sehnerv bilden). Es findet also hier schon eine Art Komprimierung der Information statt.
Im visuellen Cortex hingegen haben wir eine ganze Armada von Arealen – Milliarden von Nervenzellen, die sich um die Verarbeitung de eintreffenden Signale kümmern. Das erfolgt relativ gleichzeitig. Wir haben hier also einen sehr mächtigen Parallelprozessor am Werk. Spezialisierte Hirnareale kümmern sich um die Erkennung von Merkmalen, die dann in Muster und Regionen organisiert werden, aus denen (im weitesten Sinn) Objekte entstehen.
Die Objekte, die wir wahrnehmen, werden im visuellen Arbeitsgedächtnis gespeichert. Dessen Kapazität is gering. Die Anzahl der visuellen Objekte ist daher sehr überschaubar. Es sind etwa drei bis fünf. Ihre Zahl kann sich von Fixation zu Fixation ändern. Da wir uns die einzelnen Objekte leicht durch weitere Blickzuwendungen in das Arbeitsgedächtnis holen können, ist das meist kein Problem. Wenn das aus irgendwelchen Gründen, nicht mehr möglich ist, hat unsere Objektwahrnehmung Probleme; zum Beispiel beim plötzlichen Ausfall der Lichtquelle.
Nochmals: Das ist eine sehr stark vereinfachende Darstellung, die den Details nicht gerecht wird. Für unsere Zwecke ist sie aber ausreichend.
2.4.1 Visuelle Merkmale
Was sind das nun für visuelle Merkmale, die wir in einem ersten Schritt verarbeiten? Es sind grundlegende visuelle Attribute der visuellen Wahrnehmung: Farbe, Form, Größe, Orientierung, Position u.ä.
Die Abbildung auf der Folie zeigt einige dieser Merkmale. Diese Merkmale sind Variable, was bedeutet, sie können unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Durch diese unterschiedlichen Ausprägungen entstehen Kontraste. Diese Kontraste entlang der visueller Variablen/Merkmale sind für die Gestaltung von visuellen Darstellungen entscheidend. Damit können wir verschiedene Grade von Unterschiedlichkeit abbilden und damit Aufmerksamkeit lenken.
Das funktioniert nicht mit allen Merkmalen gleich gut. Der Kontrast zwischen Ausprägungen von Merkmalen hängt von der Größe des visuellen Unterschieds und gleichzeitig von der Homogenität/Heterogenität der Distraktoren bzw. der Kontextelemente ab. So ist der Farbkontrast zwischen den roten und blauen Kreisen ausreichend, damit der rote Kreis heraussticht. In einer Menge von bunten Reizen wäre das nicht der Fall.
Eines der mächtigsten Merkmale, wenn es um das Binden von Aufmerksamkeit geht, ist Bewegung. Hier können wir uns fast nicht dagegen wehren, dass ich Bewegung vor einem unbewegten Hintergrund deutlich abhebt. Diesen Bewegungskontrast machen sich beispielsweise die Gestalter dieser nervigen Online-Werbeanzeigen zu Nutze.
2.4.2 Visuelle Suche
Die visuellen Merkmale spielen auch eine wichtige Rolle für visuelle Suchprozesse. Die Suche nach visuellen Objekten ist umso leichter, wenn sich diese in mehreren Attributen voneinander unterscheiden. Im dargestellten Beispiel kann nach dem X-förmigen oder nach dem grünen Symbol gesucht werden. Beide Merkmalsausprägungen sind eindeutig und unterscheiden sich von den Ausprägungen der anderen Objekte. Das spielt dann beispielsweise beim Attentional Tuning eine Rolle. Dazu kommen wir später noch. Diese Suchprozesse sind nicht außergewöhnlich; im Gegenteil finden diese permanent – und meist unbewusst – statt.
Der abgebildete Scatterplott zeigt einen konkreten Anwendungsfall für visuelle Suchprozesse. Versuchen Sie zuerst zu verstehen, was hier dargestellt wird. Jedes Kreuz bzw. jeder Punkt steht für ein Land, von dem Populationswachstum gegen das Bruttosozialprodukt angetragen ist. Zwei weitere Eigenschaften werden über visuelle Merkmale codiert: niedrige-hohe Urbanität und niedrige-hohe Alphabetisierung.
Aufgaben wie “Finden Sie Länder mit hoher Urbanität” oder “Finden Sie Länder mit hoher Urbanität aber niedriger Alphabetisierung” sind visuelle Suchaufgaben nach bestimmten Merkmalen oder Merkmalskombinationen.
Wir können unsere visuelle Wahrnehmung darauf vorbereiten, bestimmte Merkmale zu finden. Das hat Folgen für die Wahrnehmung anderer Merkmale, die wir etwas später besprechen.
2.4.3 Gestaltgesetze
Im zweiten Schritt der visuellen Verarbeitung werden aus den visuellen Merkmalen Strukturen, Regionen und Muster gebildet und organisiert. Anfang des letzten Jahrhunderts gab es insbesondere in Deutschlad ein Strömung innerhalb der PSychologie, die sich intensiv damit auseinandergesetzt hat, wie diese Prozesse erfolgen.
Ausgangspunkt war die Beobachtung des österreichischen Philosophen Christian von Ehrenfels: Wenn eine Medlodie transponiert wird, also um ein konstantes Tonintervall höher oder tiefer gespielt wird, bleibt es trotzdem diselbe Melodie; auch wenn die einzelnen Bestandteile der Melodie, also die Töne, aus denen sie besteht, völlig andere sind. Da zu passt die Aussage von Aristoteles: “Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile”. Von Ehrenfels hat dieser Unveränderlichkeit (auch Invariante) der Melodie den Namen Gestalt gegeben.
Der Begriff war namensgebend für die psychologische Strömung: Die Gestaltpsychologie hat sich aber bald vorwiegend auf die visuelle Wahrnehmung konzentriert. Prominente Vertreter waren beispielsweise Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka.
Ihre grundlegende Frage war: Wie entsteht aus den einzelnen Elementen der visuellen Wahrnehmung die erlebte Ganzheit? Dazu formulierten Sie mehrere sog. Gestaltgesetze, die diesen Vorgang beschreiben sollten. Der Begriff ist aus zwei Gründen potenziell missverständlich: (1) Es geht hier nicht um Gesetze der Gestaltung. Der zentrale Begriff ist der der Gestalt (s. o.); (2) Es geht nicht um Gesetze im normativen Sinn (“Du sollst (nicht) …”), sondern um beschreibende Gesetze. Gestaltgesetze beschreiben also einige Prozesse, die auftreten, wenn im verlauf der visuellen Informationsverarbeitung aus visuellen Merkmalen Regionen, Strukturen, Muster werden.
Zwei für uns sehr wíchtige Gestaltgesetze zeigt die folgende Folie: Das Gesetz der Nähe und das Gesetz der Ähnlichkeit.
Starten wir mit der Nähe. Was sehen Sie unter den Buchstaben (a) und (b) der ersten Reihe? Vermutlich unter (a) sieben Reihen von Punkten, unter (b) sieben Spalten von Punkten. Dieser Unterschied ist erstaunlich, da sich beide Darstellungen nur miimal unterschieden. Im Vergleich zu (a) sind unter (b) die horizontalen Abstände benachbarter Punkte geringfügig größer, dafür die vertikalen abstände geringfügig kleiner. Diese erhöhte bzw. reduzierte Nähe führt zu einer völligen Umorganisation der wahrgenommenen Struktur. Noch deutlicher wird das vielleicht unter (c). Hier sehen wir zwei Gruppen von Punkten. Natürlich können wir die Ounkte zählen und uns auch dazu bringen, sieben Punkte wahrzunehmen. Der erste, automatische Seheindruck ist aber die Gruppierung der Punkte nach ihrer Entfernung zueinander. Die drei Punkte links sind nahe zusammen; ebenso die vier Pnkte rechts. Der Abstand dazwischen führt zur Aufteilung in zwei Gruppen.
Gesetz der Nähe: Dinge, die sich in räumlicher Nähe zueinander befinden, werden als zusammengehörig wahrgenommen.
Das Gesetz der Ähnlichkeit führt auch zu einer automatischen Gruppierung von Dingen. Diesmal aber nach ihrer Ähnlichkeit hinsichtlich bestimmter visueller Merkmale (s. o.). So werden die Punkte unter (a) automatisch nach ihrer Helligkeit gruppiert; unter (b) nach ihrer Form. Alle visuellen Merkmale, die wir oben besprochen haben, eigenen sich zur Erzeugung von Ähnlichkeitsbezügen. Nicht alle funktionieren in allen Kontexten gleich gut. Das ist dann häufig eine Frage von Versuch und Irrtum.
Gesetz der Ähnlichkeit: Dinge, die hinsichtlich bestimmter visueller Merkmale übereinstimmen, werden als zusammengehörig wahrgenommen.
Es soll bereits hier erwähnt werden, dass über die gleichen visuellen Merkmale auch Unähnlichkeit zwischen Objekten hergestellt werden kann, die wir dann Kontraste nennen, Über diese können wir Blickbewegungen und Aufmerksamkeit lenken.
Es gibt noch eine Menge weiterer Gestaltgesetze. Die Folie listet einige davon auf, von denen wir uns aber auf die fett gedruckten beschränken.
Das Gesetz des gemeinsamen Schicksals hat eine etwas unglücklich gewählte Bezeichnung. Gemeint ist damit, dass wir Dinge, die sich gleichzeitig auf die gleiche Art bewegen, als zusammengehörig empfinden. Stellen Sie sich den Windows-Desktop vor. Sie markieren drei Dokumente, die Sie in den Papierkorb schieben wollen. Die drei Dateisymbole bewegen sich alle gleichzeitig auf die gleiche Art (in Richtung Papierkorb). Alle anderen Symbole bleiben fixiert. Diese Art der gleichförmigen Bewegung führt zu einer starken visuellen Gruppierung.
Auch das Gesetz der Verbindungen übt einen sehr starken gruppierenden Einfluss aus. Nehmen wir zuerst jeweils die linke Hälfte der dargestellten Beispiele in den ersten beiden Zeilen. Welche Einflüsse wirken hier gruppierend? Es sind das Gesetz der Nähe und das Gesetz der Ähnlichkeit.
Im ersten Beispiel gruppieren wir automatisch nach Nähe und sehen oben zwei pinke Quadrate und unten zwei pinke Quadrate. Im zweiten Beispiel wird die Gruppierung oben-unten noch durch gleiche Farben unterstützt.
Was passiert, wenn wir die jeweils übereinander stehenden Symbole miteinander verbinden? Die ursprüngliche Gruppierung nach oben und unten wird gebrochen! Nun nehmen wir automatisch zwei Gruppen links und rechts wahr.
Das gleiche passiert, wenn die ursprüngliche Gruppierung nach Größe oder Form erfolgt ist. Die Verbindung wirkt stärker als die anderen Merkmale.
Ein Gestaltgesetz, das sich sehr gut zur Anwendung bei der Gestaltung von Benutzerschnittstellen eignet, ist das Gesetz der gemeinsamen Region. Damit können ganze Hierarchien an Gruppierungen und Bezügen hergestellt werden. Der erste Eindruck beim Blick auf die Darstellung ist vermutlich der von zwei Gruppen von Kreisen; erzeugt durch die zwei quadratischen Rahmen. Diese werden jeweils wieder unterteilt durch einen weiteren Rahmen links bzw. durch eine elliptische, schattierte Fläche, in denen je eine Teilmenge der Kreise liegt. Diese Teilmengen werden als zusammengehörend und von den anderen Kreisen getrennt wahrgenommen. Diese Gruppierungen entstehen allesamt durch die gemeinsamen Regionen, in denen die Kreise durch die Rahmen und Flächen sortiert werden.
Wenden wir die Gestaltgesetze am Beispiel der Mikrowelle in unserer Kaffeeküche an.
Wenn wir uns die unterschiedlichen Schalter und Knöpfe des Bedienpanels ansehen: Wo finden wir Gestaltgesetze am Werk? Wo und wie wirken automatische Gruppierungen? Sind diese Bezüge gewollt, zufällig oder gar missverständlich? Könnten wir die Anordnung möglicherweise durch Gestaltgesetze verbessern? – Versuchen Sie es erstmal selbst!
Meine Anmerkungen:
Es gibt drei Arten von Schaltelementen: Oben einen einzelnen länglichen Druckknopf mit der Beschriftung Mikrowelle. Dann sechs Knöpfe in je drei Zeilen. Unten ein großer runder Drehschalter. Diese drei Arten von Schaltern haben unterschiedliche Funktionen. Dadurch wird das Gesetz der Ähnlichkeit berücksichtigt: Es werden keine Bezüge hergestellt, die es auch nicht gibt!
Die Beschriftungen stehen jeweils unterhalb der Schalter. Diese Zuordnung klappt. Es wird hier das Gesetz der Nähe eingesetzt.
Dieses ist auch bei den sechst runden Schaltern am Werk: Durch die räumliche Nähe werden diese als zusammengehörend wahrgenommen. Zudem haben sie alle die gleiche Form – das Gesetz der Ähnlichkeit.
Haben die sechs runden Schalter alle ähnliche Funktionen, die eine visuelle Gruppierung rechtfertigt? Wenn wir uns die einzelnen Funktionen ansehen (Start, Stop, Grill, Auftauen, Uhr) müssen wir festhalten: eindeutig nein! Die Vereinheitlichung durch die Gesetze der Ähnlichkeit und Nähe ist durch die Funktionen nicht gerechfertigt. Es werden Bezüge hergestellt, die nicht bestehen.
Zwei Fehler sind möglich: Bezüge herstellen, die nicht bestehen oder Bezüge, die bestehen nicht herzustellen. Hier haben wir es it der ersten Art von Fehler zu tun.
Wie könnte man für die sechs ziemlich unterschiedlichen Schalter die Zuordnung zu Funktionen noch retten? Zum Beispiel durch den Einsatz von gemeinsamen Regionen oder von Verbindungen. Start-Stop gehören funktional zusammen. Man könnte beide mit einem dezenten Strich verbinden; oder sie einrahmen; oder den Hintergrund leicht schraffieren; oder alle zusammengehörenden Schalter mit einem gleichfarbigen Punkt versehen; oder, oder, oder, …
Einige Beispiele für das Zusammenspiel von visuellen Merkmalen und Gestaltprozessen.
In der Abbildung werden verschiedene Symbole dargestellt, die sich vor allem in Farbe und Form (und natürlich ihrem Platz auf der zweidimensionalen Fläche) voneinander unterscheiden. Dazu kommt die Zweiteilung der Abbildung durch die blaue Linie (ein Fluss?). Damit entstehen zwei Regionen, in die die entsprechenden Symbole verortet werden. Die obere Region wird weiter unterteilt durch ein Gebiet mit unregelmäßiger Schraffur.
Das Beispiel erinnert nicht ohne Grund an eine Kartendarstellung. Es sind visuelle Elemente und Gestaltgesetze, die bei der Gestaltung von Landkarten eingesetzt werden. Darauf werden wir später noch näher eingehen.
Auf den ersten Blick ist die Abbildung recht verwirrend. Wir sehen ein Gewirr unterschiedlich dicker, verrauschter, farbiger Linien und Symbole. Bei längerer Betrachtung stellen wir fest, dass wir uns recht leicht auf eine visuelle Deutungsebene einlassen können. Wir können problemlos die grüne Schrift oder die gelben Zahlen lesen.
Hier passiert etwas ganz Ähnliches wie bei unserem Gorilla-Beispiel, bei dem wir die Pässe des weißen Teams gezählt haben. Hier lesen wir zumbeispielsweise die grüne Schrift. Wir konzentrieren uns bei unserer Aufgabe auf bestimmte visuelle Attribute des visuell Wahrgenommenen, das mit unserer Aufgabe zu tun hat. Wir sind in der LAge, andere Attribute, die mit der aktuellen Aufgabe nichts zu tun haben, kognitive auszublenden (genauso wie wir das mit dem schwarzen Team gemacht haben). Die gelben Zahlen interessieren uns momentan nicht. Es ist nicht nur die Farbe, die hier relevant ist. Es sind Größe, Form und auch Schärfegrad.
Man bezeichnet diese Art der Konzentration auf bestimmte relevante visuelle Attribute Feature Level Tuning.
Feature Level Tuning ist auch aktiv, wenn wir verschachtelte und überlagerte Regionen auf kartenartigen Darstellungen interpretieren sollen. Das klappt in der ursprünglichen Darstellung nur mit den schwarzen Linienzügen nicht sehr gut.
Wir können die Wahrnehmung unterstützen, wenn wir stattdessen die einzelnen Gebiete mit unterschiedlichen Farben oder Texturen versehen; vor allem, wenn diese Gebiete in Teiltransparenz gezeigt werden. Dann fällt es uns relativ leicht, uns auf einzelne Gebiete zu konzentrieren und die anderen kognitiv beiseite zu schieben – welbst wenn die Flächen sich überlagern.