2.6 Top-Down
Im vorangegangenen Abschnitt (gegliedert in zwei Teile) haben wir uns mit dem Weg vom Reiz, über Merkmale und Muster zum Objekt beschäftigt. Diese Bottom-Up-Sicht ist sicherlich die klassische Perspektive, die wir auch in der im Hintergrund angedeuteten Darstellung der menschlichen Informationsverarbeitung erkennen. Wir erinnern uns: Die Metapher hier ist der Computer, der Informationen aufnimmt, verarbeitet und ausgibt. Das ist klassisches bottom-up.
Die menschliche Wahrnehmung ist aber komplexer gestrickt. Jede Stufe der Verarbeitung von links nach rechts wird zudem top-down beeinflusst. Mit top-down sind hier Einflüsse der Aufmerksamkeit oder von bestehenden Gedächtnisinhalten gemeint.
2.6.1 Attentional Tuning
Es sind insbesondere die Stufen der Muster- und Objekterkennung, die durch Aufmerksamkeitsprozesse beeinflusst werden.
Rensink (2002) nennt das im Rahmen seiner Coherence Theory den Flux (übersetzt mit Fluss oder Feld) von Proto-Objekten – einer Art visueller Vorstufe von Objekten. Erst die Zuwendung des Aufmerksamkeitsfokus macht aus diesen Proto-Objekten die visuellen Objekte, die wir über mehrere Sakkaden hinweg im visuellen Arbeitsgedächtnis behalten können. Proto-Objekte ändern sich permanent; sie sind ständig im Fluss.
Wie wir im Abschnitt 2.4 erfahren haben, ist unsere Kapazität – also unser visuelles Arbeitsgedächtnis – nach Baddeley (1992) der “visuell-räumliche Notizblock” – für visuelle Objekte sehr begrenzt; auf etwa drei bis fünf Objekte. Das liegt sicherlich auch daran, dass diese Objekte mit weiteren sonsorischen Informationen und Gedächtnisinhalten verknüpft werden. Wenn Sie beispielsweise Angst vor Hunden haben, werden durch das Erkennen eines Hundes besondere motorische und emotionale Areale aktiv.
Auch die aktuelle Aufgabe – das, was Sie gerade vorhaben zu tun – beeinflusst die Verarbeitung. Das ist besonders interessant. Wir machen in jedem Augenblick unseres Lebens Vorhersagen über das, was wir im folgenden Moment sensorisch erleben werden. Darin sind wir ausgesprochen gut. Wir haben ein Modell der Welt mit all ihren Zusammenhängen, die für uns relevant sind, in unseren Gedächtnisinhalten gespeichert. Dieses Modell ist nicht statisch, sondern wird permanent aktualisiert. Diese Aktualisierungen finden dann statt, wenn wir mit einer unserer Vorhersagen nicht richtig liegen, wenn eine Wahrnehmung nicht dem enspricht, was wir zu glaubten erfahren zu werden.
In ihrer Einführung zu einer Sonderausgabe der Zeitschrift Journal of Vision zum Thema “Perception & Prediction” fassen die Autoren den Einfluss von Vorhersagen auf die Informationsverarbeitung wunderbar kurz zusammen:
In a now-classic article, Rao & Ballard (1999) introduced the idea of predictive coding. In their model of object recognition, high-level object representations are propagated to early visual areas, where they are subtracted from the incoming visual signals. The mismatch, or residual, reflects the unexplained sensory input that may need a revised model. At all stages of processing, sensory information is compared against predictions of expected sensory events made by higher-level perceptual areas, and the residuals, or prediction errors, are propagated upward to update perceptual models of the environment. This model is the percept.
– Hayhoe et al. (2020)
Was bedeutet das konkret für unsere Top-Down-Einflüsse?
Auf jeder Stufe unserer visuellen Informationsverarbeitung werden Objekte, die sich in unserem Arbeitsgedächtnis befinden, bevorzugt behandelt. Wenn wir in unserer Umgebung ein bestimmtes Objekt suchen, sind es die Attribute dieses Objekts, die wortwörtlich in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Wenn das Objekt rot ist, nehmen wir bereits auf der ersten Stufe der Merkmalserkennung rote Reize bevorzugt auf. Andere Farbtöne hingegen werden eher unterdrückt. Das passiert nicht nur mit Farben, sondern mit allen relevanten visuellen Merkmalen. Die aktuelle Aufgabe bestimmt, was wir bevorzugt wahrnehmen.
Das erklärt schließlich auch die Karotte auf den beiden letzten Folien: Stellen Sie sich vor, Sie sind im Supermarkt und wollen Karotten kaufen. Also suchen Sie in der Gemüseabteilung nach Karrotten. Ihre Wahrnehmung wird durch diese Aufgabe beeinflusst. Sie verarbeiten bevorzugt Reize, die Sie als orange wahrnehmen und die eine bestimmte Größe und Form haben. Violette Auberginen zum Beispiel passen nicht in dieses Schema. Sie reagieren auf deren Farbe (violett), Form (nach außengewölbt), … weniger sensibel. Auf alles, was in das Merkmalsschema “Karotte” passt, reagieren Sie empfindlicher.
Dieser Prozess wird als Attentional Tuning bezeichnet. Er läuft völlig ohne unser bewusstes Zutun ab.
Ein Beispiel. Diese Abbildung soll das Zusammenspiel zwischen bottom-up und top-down illustrieren. Meines Erachtens tut sie das auch sehr gut. Vielleicht stimmen Sie mir gleich zu.
Was sehen Sie? – Meine Vermutung ist: Noch ziemlich wenig! Wahrscheinlich sehen Sie unterschiedliche helle bzw. dunkle Flächen, die unterschiedlich streng voneinander getrennt sind. Einige Bereiche weisen regelmäßige Muster auf, andere haben einen linearen Hell-Dunkel-Verlauf.
Tatsächlich sehen Sie ein Schwarz-Weiß-Foto von eher minderer Aufnahmequalität. Wenn ich Ihnen die zusätzliche Information gebe, dass es sich um ein Tier handelt, das üblicherweise “Muh” macht, wird es nicht mehr lange dauern und Sie sehen die Kuh tatsächlich.
Was ist passiert? Ihre Wahrnehmung bottom-up kam nur bis zur Stufe des Proto-Object-Flux: Regionen und Muster werden arrangiert, um möglichst viel Bedeung zu erhalten. Aber diese Bedeutung stellt sich erstmal nicht ein. Durch die Information “Muh” (top-down) kann nun versucht werden, die Regionen und Muster in das Schema Kuh zu bringen. Was schließlich auch erfolgreich ist. Durch den Top-Down-Einfluss kann der Wahrnehmungsprozess über die zweite Stufe hinaus erfolgreich bis hin zur Objekterkennung ausgedehnt werden.
2.6.2 Change Blindness
Ein weiterer Bereich, in dem top-down Prozesse der Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle spielen, ist die Erkennung von Veränderungen. Die Folie zeigt ein Standbild eines Videos, das Sie hier finden3.
Sehen Sie sich das Video bitte zuerst an!
Wir sind nicht sehr gut darin, Veränderungen in unserer visuellen Szenerie festzustellen. Das betrifft schleichende Änderungen, aber offenbar auch Änderungen, von denen wir vermutlich nicht geglaubt hätte, dass sie uns nicht auffallen würden – wie den Wechsel einer Person, die uns eine Frage stellt (das war ein Bezug auf das Video … ansehen!). Natürlich sind wir grundsätzlich in der Lage, Veränderungen zu erkennen; aber das auch nur unter bestimmten Bedingungen. Zum einen nehmen wir eine Veränderung dann wahr, wenn sie nur deutlich genug ist; wenn beispielsweise in unserem Blickfeld ein sehr auffälliger visueller Reiz erscheint. Denken Sie an die störenden Werbeanzeigen, wenn Sie einen Online-Text lesen möchten. Das ist ein bottom-up Einfluss auf unsere Erkennungsleistung. Zum anderen nehmen wir Änderungen visueller Reize dann wahr, wenn wir ihnen Aufmerksamkeit zukommen lassen. Das ist ein top-down Einfluss auf unsere Erkennungsleistung.
Warum nehmen wir dann den wechselnden Fragesteller nicht wahr? Das sollte doch deutlich genug sein und wir schauen die Person doch auch an! Offenbar ist die Situation nicht ganz so einfach. Das hat mit der Aufgabe zu tun, die den Befragten gestellt wird. Sie sollen den Weg zu einer Kirche anhand einer Landkarte beschreiben. Das zieht sowohl den Blick als auch die Aufmerksamkeit von der fragenden Person hin auf die Karte und eine interne Repräsentation der Umgebung, anhand der eine Route geplant werden kann. Auch hier also wieder: Einfluss von Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmungsleistung.
Überspitzt formuliert, sind wir – unter bestimmten Umständen (s. o.) blind gegenüber Veränderungen. Das Phänomen wird daher auch als Veränderungsblindheit oder Change Blindness bezeichnet.
Aber hier gibt es noch einen weiteren interessanten Aspekt: Uns ist diese Art der Blindheit beileibe nicht bewusst. Wir sind auch ihr gegenüber blind. Die dargestellten Diagramme zeigen Zahlen die das belegen sollen. Es wurden jeweils Versuchspersonen gefragt, ob sie bestimmte Änderungen in visuellen Szenerien, wie beispielsweise der im obigen Video gezeigten, erkennen würden. Die meisten Proband:innen haben das bejaht. Für das Video oben haben 97,6 Prozend der Versuchspersonen geglaubt, dass ihnen eine Änderung des Fragestellers auffallen würde. Tatsächlich haben das aber nur 45 Prozent getan. Eine starke Diskrepanz!
Diesen Unterschied in den Zahlen der Selbsteinschätzung und der objektiven Entdeckungsleistung haben die Autor:innen der Studie mit einem eigenen Begriff bedacht: der Change Blindness Blindness – also unserer Blindheit gegenüber dem Phänomen des Change Blindness.
Literatur
Falls der Link nicht funktionieren sollte, suchen Sie das Video mit den Stichwörtern Change Blindness Derren Brown.↩︎