Kapitel 12 bedingte Wahrscheinlichkeiten
In Kapitel 11 wurde die Definition der stochastischen Unabhängigkeit eingeführt. Sind die Ereignisse AA und BB unabhängig, so liefern Informationen bezüglich des Ereignises AA keine verwertbaren Informationen bezüglich des Ausgangs von Ereignis BB. Den Ausgangspunkt bildet der Wahrscheinlichkeitsraum (Ω,S,W)(Ω,S,W), wobei die Ereignisse AA und BB in der σσ-Algebra SS enthalten sind.
Beispiel:
Betrachtet werde ein Würfelwurf, Ω={1,2,3,4,5,6}Ω={1,2,3,4,5,6}, mit den Ereignissen A={2,5}A={2,5} und B={2,4,6}B={2,4,6}. Nach der klassischen Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt somit W(A)=26=13W(A)=26=13 und W(B)=36=12W(B)=36=12. Wegen A∩B={2}A∩B={2} gilt: W(A∩B)=16W(A∩B)=16.
Die Ereignisse AA und BB sind unabhängig, da W(A∩B)=W(A)⋅W(B)W(A∩B)=W(A)⋅W(B).
Selbst wenn feststeht, dass das Ereignis BB eintreten wird, so verändert dies für die unabhängigen Ereignisse AA und BB nicht die Eintrittswahrscheinlichkeit von AA. Mit der Festlegung auf das Eintreten von BB reduzieren sich die möglichen Resultate ΩΩ auf BB.
Es können somit nur noch jene Resultate von AA eintreten, welche einen Schnitt mit BB aufweisen. Im Beispiel ist dies A∩B={2}A∩B={2}.
Die Wahrscheinlichkeit für AA unter der Bedingung BB lautet dann:
W(A|B)=n[GA∩B]n[GB]=13W(A|B)=n[GA∩B]n[GB]=13
Die Bedingung wird im Ausdruck immer hinter dem Betragsstrich notiert.
Betrachtet werde neben den Ereignissen AA und BB das Ereignis C={4,5,6}C={4,5,6}.
Die Wahrscheinlichkeit für CC unter der Bedingung BB lautet dann:
W(C|B)=n[GC∩B]n[GB]=23W(C|B)=n[GC∩B]n[GB]=23
Das Eintreten von CC ist somit abhängig vom Eintreten von BB, da sich die Eintrittswahrscheinlichkeit für CC von W(C)=12W(C)=12 durch die Bedingung auf W(C|B)=23W(C|B)=23 ändert.
12.1 Definition bedingte Wahrscheinlichkeit
Stammen die Ereignisse AA und BB aus der σσ-Algebra SS eines Wahrscheinlichkeitsraums (Ω,S,W)(Ω,S,W), so wird die Wahrscheinlichkeit für AA unter der Bedingung BB notiert als: W(A|B)=W(A∩B)W(B)W(A|B)=W(A∩B)W(B)
Durch die Bedingung BB wird mit W(⋅|B)W(⋅|B) eine neue Wahrscheinlichkeitsfunktion festgelegt, welche für W(B)>0W(B)>0 ebenfalls den Axiomen von Kolmogorov folgt:
- W(A|B)≥0W(A|B)≥0, für jedes A∈SA∈S
- W(∪iAi|B)=∑iW(Ai|B)W(∪iAi|B)=∑iW(Ai|B), für Ai∈S, welche paarweise disjunkt sindAi∈S, welche paarweise disjunkt sind
- W(Ω|B)=1W(Ω|B)=1
Schließlich erhält man den Wahrscheinlichkeitsraum (Ω,S,W(⋅|B))(Ω,S,W(⋅|B)) für welchen in der auf BB bedingten Betrachtung auch die in Kapitel 11.2.3 genannten Folgerungen aus den Axiomen gelten.
bedingte Wahrscheinlichkeiten unabhängiger Ereignisse
Für unabhängige Ereignisse AA und BB gilt wegen W(A∩B)=W(A)⋅W(B)W(A∩B)=W(A)⋅W(B) grundsätzlich:
W(A|B)=W(A∩B)W(B)=W(A)⋅W(B)W(B)=W(A)W(A|B)=W(A∩B)W(B)=W(A)⋅W(B)W(B)=W(A)
Außerdem gilt wegen W(A∩B)=W(B∩A)W(A∩B)=W(B∩A) für die unabhängigen Ereignisse AA und BB:
W(B|A)=W(B∩A)W(A)=W(A)⋅W(B)W(A)=W(B)W(B|A)=W(B∩A)W(A)=W(A)⋅W(B)W(A)=W(B)
Die bedingte Wahrscheinlichkeit entspricht für unabhängige Ereignisse also der unbedingten Wahrscheinlichkeit. Dies ist insofern plausibel, als dass das Eintreten von AA nicht vom Eintreten von BB beeinflusst wird und umgekehrt, falls AA und BB unabhängig sind.
Fortsetzung Beispiel Tetraeder aus Kapitel 11
Gehen wir nun erneut von dem bekannten Tetraeder (4 Seiten) aus, welcher gewürfelt werden soll.
Zur Erinnerung:
Eine Seite ist blau, eine Seite ist gelb, eine Seite ist rot und die vierte Seite ist mit allen drei Farben (blau, gelb und rot) gefärbt worden.

12.1: gefärbter Tetraeder
Betrachtet werden die Ereignisse A, B und C:
A: Es wird eine Seite gewürfelt, welche blaue Farbe aufweist.
B: Es wird eine Seite gewürfelt, welche gelbe Farbe aufweist.
C: Es wird eine Seite gewürfelt, welche rote Farbe aufweist.
Hinweis: Die folgende Abbildung veranschaulicht das Ereignis BB, welches die Bedingung darstellt.

12.2: Ereignis B
Hinweis: Die folgende Abbildung veranschaulicht das Ereignis B∩CB∩C, welches die Bedingung darstellt.

12.3: Ereignis B
12.2 Fallbeispiel HIV-Test
Ein HIV-Test entdeckt eine Infektion mit einer Wahrscheinlichkeit
von 99,8%. Der Test ist negativ mit einer Wahrscheinlichkeit von
99%, falls jemand nicht infiziert ist. Ferner kann davon
ausgegangen werden, dass in Deutschland 0,1% der sexuell aktiven
Bevölkerung tatsächlich infiziert ist.
(Angaben aus dem Buch von Walter Krämer und Götz Trenkler: Lexikon der populären Irrtümer (Taschenbuchausgabe München 2002
S. 17f.)).
Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist eine Person nicht infiziert, falls das Testergebnis positiv ausfällt?
Es ist zunächst zu klären, welche Merkmale betrachtet werden.
In der Aufgabenstellung sind dies die Merkmale Infektion und Testergebnis. Im folgenden werden für die zugehörigen Merkmalsausprägungen folgende Ereignisse festgelegt:
- II bedeutet, dass eine Infektion vorliegt.
- ¯I¯¯¯I bedeutet, dass keine Infektion vorliegt.
- PP bedeutet, dass das Testergebnis positiv ist.
- ¯P¯¯¯¯P bedeutet, dass das Testergebnis negativ ist.
Aus dem Aufgabentext können dann folgende Wahrscheinlichkeiten gelesen werden:
- W(P|I)=0,998W(P|I)=0,998: Sofern der Test bei Vorliegen einer Infektion, diese auch erkennt, zeigt er ein positives Testergebnis an. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,8% tritt also PP ein, falls II gilt, die getestete Person also infiziert ist.
- W(¯P|¯I)=0,99W(¯¯¯¯P|¯¯¯I)=0,99: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% tritt ein negatives Testergebnis ¯P¯¯¯¯P ein, falls die getestete Person nicht infiziert ist, also ¯I¯¯¯I gilt.
- W(I)=0,001W(I)=0,001: Sofern 0,1% der Grundgesamtheit, welche hier die sexuell aktive Bevölkerung darstellt, infiziert sind, ergibt sich bei zufälliger Auswahl aus der Grundgesamtheit eine Wahrscheinlichkeit von 0,1% für eine infizierte Person, also II.
Im Hinblick auf die Fragestellung gilt:
- W(¯I|P)W(¯¯¯I|P) Durch die Festlegung auf positiv getestete Personen ist PP die Bedingung und ¯I¯¯¯I das Ereignis, für welches die Wahrscheinlichkeit unter der Bedingung PP zu ermitteln ist.
Die Bestimmung der Ereignisse und Zuordnung der Wahrscheinlichkeiten wird nochmal im folgenden Video ausführlich beschrieben:
Im Folgenden werden zur Beantwortung der Fragestellung drei Lösungswege vorgestellt:
12.2.1 Lösung mittels klassischer Wahrscheinlichkeitsrechnung
Die Ausgangsbasis bildet eine willkürlich groß gewählte Grundgesamtheit der sexuell aktiven Bevölkerung, welche nach den in der Aufgabenstellung genannten Merkmalen abgegrenzt werden kann. Die Zahl sollte so groß gewählt werden, dass sich nach vorgenommener Abgrenzung ausschließlich ganzzahlige Werte ergeben. Für die Darstellung empfiehlt sich ein Baumdiagramm, wie in Abbildung 12.4 dargestellt.Im Folgenden wird von einem Wert von 1.000.000 ausgegangen. Die Bevölkerung kann dann in infizierte II und nicht infizierte ¯I¯¯¯I Personen aufgeteilt werden. Innerhalb der beiden Gruppen erfolgt mit Hilfe der beiden bedingten Wahrscheinlichkeiten W(P|I)W(P|I) und W(¯P|¯I)W(¯¯¯¯P|¯¯¯I) eine weitere Untergliederung in Personen mit positivem Test (PP) und negativen Test (¯P¯¯¯¯P).
Die gesuchte Wahrscheinlichkeit W(¯I|P)W(¯¯¯I|P) kann dann mit der klassischen Wahrscheinlichkeitsrechnung ermittelt werden. Dazu wird mit Blick auf Abbildung 12.4 die Zahl der Personen mit positivem Test benötigt, also n[GP]=998+9990n[GP]=998+9990 und die Anzahl der Personen, welche ein positives Testergebnis haben und nicht infiziert sind, also n[G¯I∩P]=9990n[G¯¯¯I∩P]=9990. Es gilt: W(¯I|P)=Anzahl nicht infizierter Personen mit positivem TestAnzahl der Personen mit positivem Test=9990998+9990≈0,91W(¯¯¯I|P)=Anzahl nicht infizierter Personen mit positivem TestAnzahl der Personen mit positivem Test=9990998+9990≈0,91

12.4: Baumdiagramm
12.2.2 Lösung mittels Kontingenztabellen
Die Wahrscheinlichkeiten zu den beiden Merkmalen “Infektion” und “Testergebnis” lassen sich mit Ihren Ausprägungen I, ¯I, P und ¯P, wie in Abbildung 12.5 durch eine Kontingenztabelle veranschaulichen. In der letzten Zeile und der letzten Spalte finden sich die Randwahrscheinlichkeiten. Im Inneren der Tabelle werden die Wahrscheinlichkeiten für den Schnitt der betrachteten Ereignisse notiert. Ereignis und Gegenereignis sind jeweils disjunkt und bilden somit eine Zerlegung von Ω. Gemäß der 6. Folgerung aus den Axiomen entspricht die zeilenweise- und spaltenweise Summe der Schnittwahrscheinlichkeiten somit der jeweiligen Randwahrscheinlichkeit. Es gilt somit: W(I)=W(P∩I)+W(¯P∩I), wegen P∩¯P=∅, P∪¯P=ΩW(¯I)=W(P∩¯I)+W(¯P∩¯I), wegen P∩¯P=∅, P∪¯P=ΩW(P)=W(P∩I)+W(P∩¯I), wegen I∩¯I=∅, I∪¯I=ΩW(¯P)=W(¯P∩I)+W(¯P∩¯I), wegen I∩¯I=∅, I∪¯I=Ω

12.5: Kontingenztabelle Wahrscheinlichkeiten 1
Nun kann aus den Informationen der Aufgabenstellung nur W(I)=0,001 direkt in die Kontingenztabelle übernommen werden, denn W(P|I)=0,998 und W(¯P|¯I)=0,99 sind bedingte Wahrscheinlichkeiten.
Schauen wir zunächst auf W(P|I). Aus der Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit folgt W(P|I)=W(P∩I)W(I). Somit kann W(P∩I) durch Umstellung der Gleichung einfach berechnet werden und in die Kontingenztabelle übernommen werden:
W(P∩I)=W(P|I)⋅W(I)=0,998⋅0,001=0,000998
Aus W(I)=0,001 folgt W(¯I)=1−W(I)=0,999.
Somit kann auch W(¯P|¯I) wie folgt ermittelt und in die Kontingenztabelle übernommen werden:
W(¯P∩¯I)=W(¯P|¯I)⋅W(¯I)=0,99⋅0,999=0,989010
Abbildung 12.6 zeigt die Kontingenztabelle mit den so eben berechneten Wahrscheinlichkeiten.

12.6: Kontingenztabelle Wahrscheinlichkeiten 2
Die übrigen Wahrscheinlichkeiten lassen sich aus der Kenntnis, dass die Summe der gemeinsamen zeilen- spaltenweisen Wahrscheinlichkeiten den zugehörigen Randwahrscheinlichkeiten entspricht, in der Reihenfolge a, b, c, d bestimmen. So erhält man schließlich die in Abbildung 12.7 dargestellte Kontingenztabelle.

12.7: Kontingenztabelle Wahrscheinlichkeiten 3
Die gesuchte Wahrscheinlichkeit W(¯I|P) kann somit ganz einfach unter Rückgriff auf die Wahrscheinlichkeiten aus Abbildung 12.7 berechnet werden:
W(¯I|P)=W(P∩¯I)W(P)=0,0099900,010988≈0,91
12.2.3 Lösung mit dem Satz von Bayes
Eine weitere Möglichkeit zur Bestimmung von bedingten Wahrscheinlichkeiten stellt der Satz von Bayes dar.
Im Weiteren stellen die Ereignisse der Menge {B1,B2,...} aus der σ-Algebra S des Wahrscheinlichkeitsraums (Ω,S,W) eine Zerlegung von Ω dar. Die Ereignisse sind somit paarweise disjunkt und ihre Vereinigung führt zu Ω.
Mit dem Satz von Bayes lässt sich aus einer festgelegten a-priori-Wahrscheinlichkeit (ohne Zusatzinformationen) W(Bk) eine a-posteriori-Wahrscheinlichkeit (mit Zusatzinformationen) W(Bk|A) berechnen.
Man geht daher der Frage nach, wie sich eine unbedingte Wahrscheinlichkeit durch Berücksichtigung einer Information A verändert.
Die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit W(Bk|A), mit Bk∈{B1,B2,...} kann nach dem Satz von Bayes unter Rückgriff auf die a-priori-Wahrscheinlichkeit W(Bk) wie folgt ermittelt werden:
W(Bk|A)=W(A|Bk)⋅W(Bk)∑iW(A|Bi)⋅W(Bi)
In der Aufgabenstellung wird die a-posteriori-Wahrscheinlichkeit W(¯I|P) gesucht.
Die folgenden Wahrscheinlichkeiten sind aus der Aufgabenstellung direkt bekannt:
- W(P|I)=0,998
- W(¯P|¯I)=0,99
- W(I)=0,001
Die Ereignisse P und ¯P bilden analog zur allgemeinen Formulierung mit den Ereignissen B1,B2,... eine Zerlegung von Ω. Nach dem Satz von Bayes kann W(¯I|P) somit wie folgt bestimmt werden:
W(¯I|P)=W(P|¯I)⋅W(¯I)W(P|¯I)⋅W(¯I)+W(P|I)⋅W(I)
Die a-priori- Wahrscheinlichkeit W(¯I) erschließt sich unmittelbar aus:
W(¯I)=1−W(I)=1−0,001=0,999
Für die Berechnung wird allerdings im Zähler und im Nenner mit W(P|¯I) noch die Wahrscheinlichkeit für ein positives Testergebnis bei nicht Vorliegen einer Infektion benötigt. Diese kann einfach ermittelt werden aus:
W(P|¯I)=1−W(¯P|¯I)=1−0,99=0,01
Somit folgt schließlich:
W(¯I|P)=W(P|¯I)⋅W(¯I)W(P|¯I)⋅W(¯I)+W(P|I)⋅W(I)=0,01⋅0,9990,01⋅0,999+0,998⋅0,001≈0,91
12.3 Antigen-Schnelltests auf SARS-CoV-2 und bedingte Wahrscheinlichkeiten
Das folgende Tool ermöglicht am Beispiel der Mindestvorgaben für Antigen-Schnelltests auf SARS-CoV-2 die automatisierte Erstellung einer Kontingenztabelle sowie die Bestimmung einer bedingten Wahrscheinlichkeit, analog zum Fallbeispiel des HIV-Tests aus Kapitel 12.2.2: